Anschließend muß ich noch darauf hinweisen, daß mit der Aufzählung der Lehrer, die in Harkau während dieser erfaßbaren Zeit gewirkt haben, nichts über den Wert, der Güte dieser Schule ausgesagt wurde. Es ist und war in den Nachbargemeinden bekannt, daß die Harkauer damit verspottet wurden, in Harkau sei die "Kaiwlschule", die Kälberschule. Der humorvolle und allzeit zu Späßen aufgelegte ehemalige Pfarrer Schermann aus Wolfs soll einmal, Ende der 20er Jahre vertretungsweise zu einer Beerdigung nach Harkau gekommen sein. Die Schulkinder warteten mit ihrem Lehrer, dem Mesner und dem "Leichansager" in der Einfahrt des Pfarrhauses, in dessen Parterre sich die Schule befindet. Pfarrer Schermann konnte es sich nicht verkneifen, vor der Schule stehen zu bleiben und schelmisch auf die Schule blickend zu bemerken: "Das ist sie also!" Jeder wußte natürlich, daß damit die "Kaiwlschul" gemeint war.
 
Damit aber nicht ich sie verteidige, da ich diese Schule ja auch besucht habe, will ich einen Größeren zu Worte kommen lassen. Prof. Alexander Payr, über die Grenzen Ungarns hinaus bekannter Kirchenhistoriker, schreibt dazu in seinem Buch: "Pfarrer Nagy und die Harkauer Schule unter Josef II" (ungarisch, Seite 15): "Gerne will ich zur Verteidigung der Schule eintreten, denn mein seliger Großvater, Samuel Payr, der ehemalige fromme Wolfser Pfarrer, war als Harkauer Bauernbub auch ein Schüler dieser "Kaiwlschul" gewesen. Die Bevölkerung Harkaus steht und stand auf einem sehr hohen geistigen Niveau. Glieder der ausschließlich bäuerlichen Bevölkerung kommen oft zusammen und lesen in diesen Kreisen philosophische Werke über Monismus usw. Wie sollte eine Schule, die solche Menschen heranbildet, eine "Kaiwlschul" sein?"
 
Nun woher kommt der Spottname? Auch hier will ich mich auf die Ausführungen von Prof. Payr stützen! Als 1673 die evang. Kirche rekatholisiert, anschließend der evang. Pfarrer und ~ Lehrer verjagt wurde, gingen die Buben des Dorfes täglich mit einem alten Mann in die Waldlichtungen, wo dieser die Kälber des Dorfes hütete. Dort lehrte der alte Mann die Kinder die Bibel lesen. Die Feinde Harkaus, die das "spitzbekommen" hatten, posaunten es hinaus, die Harkauer würden in der "Kaiwlschul" das Lesen lernen. So gesehen waren die meisten Harkauer auch stolz auf ihren "Schimpfnamen", gibt er doch indirekt Zeugnis von ihrer Treue zum Glauben ihrer Väter. Seit 1800 wurden laut Bericht des Pfarrers Schiller an jedem Schuljahrsende für alle Klassen der Harkauer Schule ein öffentliches Examen (Prüfung) abgehalten. Im Conventsbeschluß vom 8. Juni 1800 heißt es darüber: "Damit die Schuljugend Proben ihrer Fortschritte in denjenigen Kenntnissen, die ihnen in der Schule vorgetragen wurden von dem Schullehrer, öffentlich ablegen könnten, wurde es für notwendig und heilsam befunden, alle Jahre um Ostern ein Examen oder Prüfung mit den Schulkindern in der Kirche abzuhalten. Um den Fleiß und gute Aufführung bei den Kindern noch mehr zu erregen, sollen diejenigen, welche sich vor den anderen am besten auszeichnen, kleine Geschenke aus der Kirchen-Cassa bekommen". Diese Sitte wurde bis 1945 aufrechterhalten, allerdings ohne Beschenkung der besonders guten Schüler. Zu diesen Prüfungen wurden nicht nur die Eltern der Schüler und Erwachsenen der Gemeinde eingeladen, sondern bis zum Ersten Weltkrieg erschienen auch zahlreiche interessierte Herren aus Ödenburg. Diese brachten zahlreiche Geschenke, meist Bücher, für besonders gute Leistungen der Schüler mit. So erzählte mir Michael Wilfing, mein "Wilfing Vetter", unzählige Mal, wie er nach jedem "Examen" mit vielen Büchern beschenkt worden war, da er so gute Leistungen bei der Prüfung gebracht hatte. Oft bewunderten "die Herren" den Kenntnisstand der Schüler. Leider wurde keiner von diesen begabten Jungen ermuntert, die höhere Schule in der nur 5 km entfernten Stadt Ödenburg zu besuchen, wenn schon die "stolzen (?) Bauernväter" nicht daran dachten. Wieviel Begabung blieb da brach liegen!
 
Es ist überhaupt mit Bedauern festzustellen, daß sehr wenige Harkauer eine höhere Schule besuchten, ein Studium absolvierten. Im ersten Jahrzehnt der neu eröffneten evang. Schule, nach 1783, erwuchsen ihr wenigstens (uns bekannte) zwei gebürtige Harkauer als Lehrer. Der eine studierte anschließend sogar an der Uni in Göttingen, sowie ein Pfarrer, Samuel Payr, der jahrzehntelang Pfarrer in Wolfs war. Während in den darauffolgenden 150 Jahren studierten meines Wissens außer mir nur zwei Harkauer Jungen am Lehrerseminar, Ruiß (Bruder von Gottlieb Ruiß und Großonkel von Eta Prückler) sowie Tobias Payer (Siegel) und ein Pfarrer, Matthias Gritsch, 1926. Außer diesen legten noch Maria Lagler, verh. Neubauer 1910 und Johann Latzko 1941 in der höheren Handelsschule das Abitur ab. (Wobei wir allerdings die Pfarrer- und Lehrersöhne hier nicht berücksichtigen!) Wieso waren es nur so wenige, bei einer "geistig so aufgeschlossenen Bevölkerung" (Payr), bei einer so großen Musikalität (siehe kulturelles Leben!), damals die Voraussetzung eines Lehrerstudiums? Dabei stand doch das Lehrerseminar seit 1858 in Ödenburg, sozusagen "vor der Tür:" Das evang. Gymnasium und die Theologie hatten seit 1557 im nahen Ödenburg ihre Heimstätten. Vielleicht hat Eugen Schusteritsch recht, wenn er in seinem Buch: "Ödenburg und Umgebung" über Harkau u. a. schreibt: Bursch und Burschdirn zu sein, war das Ideal jedes Harkauer Knirpses und Mädels. Wenn die Buben sahen, wie die Burschen am Kiritag-Samstag in den Wald fuhren, um Stauden zu lacken und dann mit dem von Pferden gezogenen Staudenwagen heimkamen welcher Junge wollte da nicht auch einmal dabei sein?" Dieser Aufzählung Eugen Schusteritsch's über die Harkauer Burschenherrlichkeit" könnte noch vieles, vieles hinzugefügt werden. Nun war über ein Mitmachen bei der "Bursch" und ein gleichzeitiges Studieren nicht möglich. Ob diese Tatsache - neben den oft nicht geringen materiellen Aufwendungen, das ein Studium kostete- die Hauptursache waren, warum die Harkauer Jugendlichen trotz mancher Begabung nicht studieren wollten oder konnten?
 
Quelle: "Harkau - mein Heimatdorf ",
die Geschichte eines deutschen Bauerndorfes in Westungarn
Andreas Schindler (1987)