Aus der Pforte

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!Walter Rossmann
Vorstadt 4 • 7022 Schattendorf • Österreich
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Konflikt zwischen Glaube und Wissenschaft ?
Mit Dekret der Ritenkongregation des Heiligen Stuhls vom 10. Dezember 1924 wurde der Heilige Martin von Tours zum Landespatron des Burgenlandes erhoben (Anm.). Das Leben und Wirken dieses populären Volksheiligen, insbesondere die Mantelteilung waren und sind Themen unzähliger Predigten und humanitärer Schriften.

 

Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass das Geburtsjahr des Heiligen heftig umstritten ist. In vielen Geschichtswerken und Lexika, sogar im großen Lexikon für Theologie und Kirche (Anm.), daher auch in burgenländischen Standardwerken zur Kirchengeschichte, sowie auf der Homepage der Diözese Eisenstadt www.martinus.at wird angegeben, dass der Heilige Martin von Tours im Jahr 316 in Savaria geboren worden sei. Im Begleittext zur Briefmarke "St.Martin - Landespatron Burgenland" die 2008 herausgegeben wurde, ist zu lesen, dass Martin von „etwa 316 bis 397“ lebte. In der Ausstellung des Diözesanmuseums im Eisenstädter Franziskanerkloster ist dem Hl. Martin ein eigener Raum gewidmet. Im Einleitungstext wird die Geburt Martins „um 316/317 oder 335/36“ angegeben, auf einem weiteren Text mit „um 317“.
Für zahlreiche populäre Bücher, Aufsätze und Internetartikel über den Heiligen Martin wurde von gläubigen Verfassern am häufigsten die bisher meistgenannte Jahreszahl 316 als Geburtsjahr kritiklos übernommen. Auch Wikipedia, die freie Enzyklopädie im Internet, vermerkt unter dem Stichwort „Martin von Tours“ die Geburt des Heiligen „um 316/317“. Das ökumenische Heiligenlexikon www.heiligenlexikon.de im Internet führt derzeit jedoch das Jahr 331 als Geburtsjahr und den 8.November 399 als Todestag Martins an. Auf der Internetseite www.heligenlegenden.de ist zu lesen, dass Martin „im Jahr 310 oder 316" (Anm.) geboren wurde und „am 6. oder 11. November im Jahr 400“ gestorben sei. Das Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon nennt als Geburtsjahr „wahrscheinlich 336 (oder 316)“. In manchen älteren und neueren Publikationen im deutschen Sprachraum scheinen aber auch die Jahre 309, 311, 313, 314, 315, 319, 326, 333, 335 oder 338 als Geburtsjahre auf. In der wissenschaftlichen Fachliteratur wird hingegen immer öfter das Jahr 336 als Geburtsjahr angeführt.

 

Diese erstaunliche Vielfalt an Daten mit 16 verschiedenen Geburtsjahren ist darauf zurückzuführen, dass für den antiken Martinusbiographen Sulpicius Severus nicht nüchterne Zahlen, sondern die Überlieferung der Worte, Wundertaten und der heiligmäßige Lebenswandel des Martinus im Vordergrund standen. Er hat seine Aufzeichnungen noch zu Lebzeiten des Martin, in den Jahren 394 bis 396 aufgrund von persönlichen Mitteilungen und Erinnerungen des Heiligen selbst, sowie von Erzählungen der Mönche des von Martin gegründeten Klosters verfasst (Anm.). Diese Lebensbeschreibung ist die unmittelbare, daher wichtigste und verlässlichste Schriftquelle über den Heiligen Martin und an Glaubwürdigkeit allen anderen Texten weitaus vorzuziehen.

 

Sulpicius verwendete in seinem Werk aber keine einzige absolute Jahresangabe, sondern führte bei verschiedenen Ereignissen im Leben des Martin immer nur dessen jeweiliges Lebensalter an. Später hat Sulpicius Severus in Briefen, Dialogen und einer Chronik noch zusätzliche Nachrichten zum Leben des Heiligen Martin überliefert, doch stammen die Angaben dazu aus zweiter und dritter Hand, sind also mit dem historischen Quellenwert der Vita nicht vergleichbar und nur mit Vorsicht zu behandeln (Anm.).

 

Diese Schriften des Sulpicius Severus verwendeten mit literarischen Ausschmückungen, jedoch ohne Berücksichtigung des historischen Hintergrundes zuerst Paulinus von Petricordia, der um 460-470 ein Gedicht über Martinus schrieb und Venantius Fortunatus, der um 576 ein Martinepos mit 2243 Hexametern zum heiligmäßigen Leben des Martin verfasste (Anm.). Viele andere spätantike und mittelalterliche Autoren haben dann ebenfalls unter Benützung der Vita Sancti Martini des Sulpicius Severus je nach Fleiß, Intention und Wissensstand manche Kürzungen vorgenommen, sowie legendenhafte Ergänzungen und verschieden begründete Berechnungen des Geburts- und Todesjahres hinzugefügt.

 

An erster Stelle ist dabei Bischof Gregor von Tours mit seinem um 590 verfassten zehnbändigen Werk über die Geschichte der Welt und des Frankenreiches zu nennen. Im ersten Band, der die Geschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Lebensende des Martin von Tours enthält, ergänzte er die Angaben des Sulpicius durch die Nennung von Geburtsjahr, Lebensalter und Todesjahr des Heiligen*. Gregor verwendete aber natürlich noch nicht die heute übliche Jahreszählung ab Christi Geburt, sondern die in der römisch-lateinischen Spätantike allgemein gebräuchlichen Angaben: die Zählung der Regierungsjahre der Kaiser, die Namen der beiden Konsuln des jeweiligen Jahres oder die Zählung der Jahre ab Erschaffung der Welt.
Die drei hier folgenden Textauszüge aus den Historien des Gregor von Tours wurden und werden bis heute immer wieder, zumeist unkritisch zur Datierung des Lebenslaufes des Heiligen Martin herangezogen:

 

Romanorum tricesimus quartus imperium obtinuit Constantinus, annis triginta regnans feliciter. Huius imperii anno undecimo ... beatissimus praesul Martinus apud Sabariam Pannoniae civitatem nascitur parentibus gentilibus, non tamen infimis. - Constantin der vierunddreissigste Herrscher Roms regierte 30 Jahre glücklich. Im elften Jahr seiner Regierung ... wurde der seligste Bischof Martinus bei der Stadt Sabaria in Pannonien geboren, von heidnischen aber nicht unbedeutenden Eltern. (Hist.Francorum I,36)

 

Arcadi vero et Honori secundo imperii anno sanctus Martinus Turonorum episcopus ... octuaginsimo et primo aetatis suae anno, episcopatum autem vicissimo sexto, ... migravit ad Christum. ... Attico Caesarioque consulibus. - Im zweiten Regierungsjahr von Arcadius und Honorius ist der Heilige Martin, Bischof von Tours ... in seinem 81.Lebensjahr, im 26. Jahr des Episkopates ... zu Christus heimgegangen.... als Atticus und Caesarius Consuln waren.(Hist. Francorum I,48)

 

A passione ergo Domini usque transitum sancti Martini anni 412 conpotantur. … Explicit liber primus, continens annos 5596, qui conpotantur a principio usque ad transitum sancti Martini episcopi. - Von der Passion des Herrn bis zum Heimgang des Heiligen Martin vergingen daher 412 Jahre. ... Dieses erste Buch schildert den Ablauf von 5596 Jahren, die von der Erschaffung der Welt bis zum Heimgang des heiligen Bischofs Martin vergingen.(Hist. Francorum I,48)

 

Leider sind diese Angaben des Gregor von Tours sehr unzuverlässig und wurden deshalb auch von manchen Historikern in Frage gestellt*. Denn Constantin I. war nicht der 34. sondern der 50., unter Einbeziehung der Usurpatoren und Gegenkaiser sogar der 106. Kaiser Roms. Er regierte vom 25. Juli 306 bis 22. Mai 337, also nicht 30, sondern 31 Jahre. Bis 325 war Licinius sein Mitkaiser, danach war Constantin Alleinherrscher. Das 11.Regierungsjahr des Constantin zusammen mit Licinius war das Jahr 317 und bei relevanten Zählungen wurden in der Antike immer die Namen und Titel beider Herrscher angeführt (Anm.). Das 11.Regierungsjahr Constantins als Alleinherrscher war das Jahr 336. Das Jahr 336 war aber auch das 11.Amtsjahr seines Sohnes Constantius II. als Caesar im Osten des Reiches. Verwechslungen von Namen und Taten der Herrscher des constantinischen Kaiserhauses Constantius I. (305-306), Constantinus I. (306-337), Constantinus II. (337-340), Constans (337-350) und Constantius II. (337-361) waren schon in der Antike häufig (Anm.).

 

Arcadius und Honorius, die Söhne des Theodosius I., traten nach dem Tod ihres Vaters am 17.1.395 die Herrschaft an. Ihr zweites Regierungsjahr war also 397. In diesem Jahr waren Nonius Atticus Maximus und Flavius Caesarius Konsuln. Nur diese beiden Angaben des Gregor sind korrekt. Vollkommen aus der Luft gegriffen sind für uns heute natürlich seine Jahreszählungen ab der Passion Christi und ab der Erschaffung der Welt. Hier folgt Gregor den von Eusebius von Caesaraea und Paulus Orosius aus Königslisten, anderen antiken Quellen und der Bibel konstruierten Chroniken (Anm.), laut der die Welt im Jahr 5.200 vor Christus (nach unserer heutigen Zeitrechung) erschaffen worden sein soll.
Die von der wissenschaftlichen Forschung überprüfbaren Daten des Gregor von Tours zum Leben des Heiligen Martin haben sich als überwiegend falsch herausgestellt (Anm.). Daher muss auch die Angabe zum Lebensalter von 81 Jahren sehr kritisch aufgenommen werden. Diese auf das Jahr genaue Altersangabe ist für die Antike eher ungewöhnlich. Auf römischen Grabsteinen ist zum Beispiel das Alter der Verstorbenen meist nur ungefähr angegeben, je höher das Alter, desto ungenauer. Bei Kindern sind Lebensjahre und Monate verzeichnet, bei Jugendlichen bis 20 noch Einzeljahre, bei Erwachsenen um 50 wird das Alter höchstens auf 5 Jahre genau geschätzt, bei noch älteren Personen werden runde Zahlen wie 60, 80 oder 100 Jahre angegeben. Die Angabe, Martin von Tours sei genau 81 Jahre alt geworden, erscheint aus dieser Sicht unglaubwürdig. Ein Lebensalter von etwa 60 Jahren wäre wahrscheinlicher.

 

Dass Geburtstag und Geburtjahr von berühmten Personen der Antike unbekannt sind, ist nicht außergewöhnlich. Sogar von Kaiser Constantinus I. ist nur überliefert, dass der an einem 27. Februar irgendwann zwischen 272 und 288 in Naissus (Niš) geboren wurde. Von Kaiser Flavius Claudius Iulianus Apostata ist zwar das Geburtsjahr 331 bekannt, nicht aber der Tag. Genau bekannt sind aber die Todestage: Constantinus I. starb am 22.Mai 337 in Ankyrona bei Nicomedia und Julianus Apostata am 26.Juli 363 bei Ktesiphon am Tigris.
Solch exakte Geschichtskenntnisse hatten aber die mittelalterlichen Autoren, die unter Berufung auf Gregor von Tours später viele Schriften und Wundermärchen über das Leben des Heiligen Martin verfassten, nicht. So schrieb zum Beispiel Jakobus von Voragine, ein frommer Dominikanermönch, später Bischof von Genua, der aber offensichtlich nicht gut rechnen konnte und auch nur mangelhaftes Geschichtswissen hatte als Verfasser der viel gelesenen Legenda aurea im 13. Jahrhundert, Martin sei im Alter von 81 Jahren im Jahr 390, als Honorius und Arcadius regierten gestorben, daher im Jahr 316 geboren worden (Anm.). Später entstand daraus die Behauptung, das Geburtsjahr des Martin sei das Jahr 309.

 

Schon vor über 200 Jahren hat der ungarische Althistoriker Stephanus Schoenvisner in seinem berühmten Werk Antiquitatum et historiae Sabariensis gegen die falschen Berechnungen Stellung bezogen und das tatsächliche Geburtsjahr Martins aus den Angaben in der Vita Sancti Martini des Sulpicius Severus abgeleitet (Anm.).
Ausführlich hat sich auch Joseph Hubert Reinkens 1866 mit den unterschiedlich berechneten Lebensdaten des Martin von Tours auseinandergesetzt und ebenfalls der ersten und unmittelbaren Schilderung des Sulpicius Severus den Vorzug gegeben (Anm.).
In der Diözese Eisenstadt, herausgegeben vom Eisenstädter Martinus Verlag im Bischofshof, ist zum Martin-Gedenkjahr 1997 die Vita Sancti Martini des Sulpicius Severus unter Berücksichtigung der neuesten Forschungsergebnisse von Kurt Smolak textkritisch behandelt, übersetzt und kommentiert, erschienen. Die anschließenden Bemerkungen stützen sich vor allem auf diese lateinisch-deutsche Ausgabe, deren Lektüre jedem Martinforscher dringend empfohlen wird (Anm.).

 

Hier folgen nun die wichtigsten Textauszüge zum Leben des Hl. Martin aus der um 394-396 in Primuliacum (heute Prémillac in Frankreich) niedergeschriebenen und 397 noch zu Lebzeiten des Mönchsbischofs veröffentlichten Vita Sancti Martini des Sulpicius Severus (Anm.) in lateinischer Originalfassung, deutscher Übersetzung und mit erläuternden Kommentaren. Dazu werden altbekannte und neue historische Forschungsergebnisse zur politischen und kirchlichen Geschichte des vierten Jahrhunderts herangezogen und entsprechend - auch mit Originalzitaten - belegt.

 

1-sulpsev.codex_6326
Die Geburt des Martinus in Sabaria aus Sulpicii Severi de vita S.Martini 2, 1-2. Handschrift des 10.Jahrhunderts. Bayerische Staatsbibliothek München, Codex 6326.

 

Igitur Martinus Sabaria Pannoniorum oppido oriundus fuit, sed intra Italiam Ticini altus est ... - Nun denn: Martin kam in Savaria, einer Stadt in Pannonien zur Welt, aufgewachsen ist er aber in Italien, in Ticinum ... (Vita Sancti Martini 2,1)

 

Das oppidum Savaria (ab dem 4.Jahrhundert auch Sabaria) in Pannonien ist heute unumstritten die antike Vorgängerin der westungarischen Stadt Szombathely-Steinamanger im Komitat Vas-Eisenburg. Die im Mittelalter entstandene Behauptung, Savaria (oder sicca sabaria) sei am Martinsberg (heute Pannonhalma) gewesen, ist eine Erfindung der Bendiktinerchronisten zur Hebung der Bedeutung dieser ungarischen Erzabtei (Anm.). Ticinum ist das heutige Pavia, 30 Kilometer südlich von Mediolanum-Mailand. Die Güter der Familie des Martinus haben sich in einem Vorort von Ticinum, im heutigen San Martino Siccomario befunden. Hier ist Martin aufgewachsen und deshalb hat er auch Ticinum als seine Heimatstadt angesehen. Das Name Martinus ist in römischer Zeit nicht selten und kommt sowohl als Gentile, als auch als Cognomen vor. Leider hat uns Sulpicius Severus weder den kompletten Namen des Martinus, noch die Namen seiner Eltern überliefert. Der Grund hierfür ist unbekannt (Anm.).

 

... cum esset annorum duodecim, eremum concupivit fecissetque votis satis ... - ... als er zwölf Jahre alt war, verspürte er das brennende Verlangen Einsiedler zu werden. (Vita Sancti Martini 2,4) Die Kenntnis vom Einsiedlertum der ägyptischen Wüstenväter gelangte 339 mit Athanasios nach Italien und verbreitete sich ab 340 dort rasch (Anm.). Martin kann also erst ab diesem Zeitpunkt von dieser vorher im Westen des Reiches unbekannten Form des eremitischen Mönchtums erfahren haben.

... cum esset annorum quindecim, captus et catenatus sacramentis militaribus inplicatus est ... - ... als er fünfzehn Jahre alt war, wurde er ergriffen und in Ketten zum Fahneneid gezwungen. (Vita Sancti Martini 2,5) Entsprechend eines Reskripts (Erlass) von Kaiser Constantin I., gegeben am 30.Juli 326 in Aquileia, waren die Söhne von Soldaten verpflichtet, ebenfalls den väterlichen Beruf zu ergreifen und mit 20 Jahren einzurücken. Mit Reskript Constantins vom 13.April 332 wurde das Einberufungsalter auf das 16.Lebensjahr herabgesetzt (Anm.).

 

Ipse armatam militiam in adolescentia secutus, inter scolares alas sub rege Constantio, deinde sub Iuliano Caesare militavit. - Er trat schon als junger Mann in den Dienst mit der Waffe und leistete diesen in den scholares alas unter Kaiser Constantius, dann unter Kronprinz Iulian. (Vita Sancti Martini 2,2)

 

Als Sohn eines Offiziers wurde Martin zu den scholares alas, in die „Kadettenschule“ und zu den kaiserlichen Garde-Kavallerie-Regimentern des Constantius II. in Mediolanum-Mailand eingezogen. Die Scholae palatinae bzw. Scholares alas waren nach Auflösung der Praetorianergarde von Kaiser Constantinus I. nach seinem Sieg über Maxentius an der Milvischen Brücke als Leibgarde aufgestellt worden. Diese Elitetruppe bestand in der westlichen Reichshälfte aus fünf Regimentern mit je 500 schwer gepanzerten und mit Schild, Lanze, Schwert, Dolch und Axt oder Bogen bewaffneten Reitern von großer Kampfstärke (Anm.).

 

Triennium fere ante baptismum in armis fuit. - Drei Jahre lang etwa leistete er vor der Taufe den Dienst mit der Waffe. (Vita Sancti Martini 2,6)

 

Im Herbst 353, nach dem Sieg über den Gegenkaiser Magnentius und der Übernahme auch der westlichen Reichshälfte durch Constantius II. wurden die neu gruppierten Scholares alas nach Gallien verlegt. Die Einheit, bei der Martin Dienst tat, war dann in Ambianensium (heute Amiens) stationiert.

 

Quodam itaque tempore ... media hieme... obvium habet in porta Ambianensium civitatis pauperem nudum. - Ungefähr um diese Zeit ... mitten im Winter ... hatte er am Tor der Stadt Amiens eine Begegnung mit einem nackten Bettler. (Vita Sancti Martini 3,1).

 

Bei Sulpicius Severus findet sich kein Hinweis darauf, ob Martin bei der berühmten Mantelteilung zu Fuß oder zu Pferd gewesen sei.

 

... cum esset annorum duodeviginti, ad baptismum convolavit. - ... als er achtzehn Jahre alt war, eilte er zur Taufe. (Vita Sancti Martini 3,5). Im 3. und 4. Jahrhundert wurde die Taufe vorzugsweise nur Erwachsenen gespendet.

 

Qua Martinus expectatione suspensus per biennium fere, posteaquam est bapitismum consecutus, solo licet nomine militavit. - In ständiger Erwartung dessen blieb Martin, nachdem er die Taufe erhalten hatte, noch etwa zwei Jahre lang Soldat, freilich nur dem Namen nach. (Vita Sancti Martini 3,6).

 

Martin hatte seinem Regimentskommandeur versprochen, bis zum Ende dessen Dienstzeit bei der Truppe zu bleiben.

 

Interea inruentibus intra Gallias barbaris Iulianus Caesar coacto in unum exercitu apud Vangionum civitatem donativum coepit erogare militibus, et, ut est consuetudinis, singuli citabantur, donec ad Martinum ventum est. Tum vero opportunum tempus existimans, quo peteret missionem... - Inzwischen waren die Barbaren in Gallien eingefallen und Kronprinz Iulian zog vor der Hauptstadt der Vangionen sein Heer zusammen und begann eine Geldspende an seine Soldaten zu verteilen. Dabei wurden sie wie üblich einzeln aufgerufen, schließlich war auch Martin an der Reihe. Er hielt diesen Zeitpunkt für günstig, um seine Entlassung vom Militär zu erbitten ... (Vita Sancti Martini 4, 1-2).
Diese Textstelle ist der Schlüssel für die absolute Chronologie im Lebenslauf des Martinus, da der Zeitpunkt des Geschehens aus der römischen Geschichtsschreibung genau bekannt ist: Am 6. November 355 ernannte Kaiser Flavius Claudius Constantius II. seinen Vetter Flavius Claudius Iulianus, später „Apostata“ genannt, zum Caesar (Kronprinz) des Westens, verheiratete ihn mit seiner Schwester Helena und schickte ihn mit einer Leibgarde von 360 Mann Anfang Dezember 355 nach Gallien. Im Jahr 356 zog Iulian bei Borgetomagus, der Hauptstadt der Vangionen , heute Worms am Rhein, sein Heer zusammen um gemeinsam mit Constantius die Alamannen anzugreifen*. Vor dem Beginn der Kampfhandlungen im August 356 verteilte Iulian persönlich eine zusätzliche Geldprämie an seine Gardesoldaten um sie noch enger an sich zu binden. Diese Gelegenheit nahm Martinus wahr, um seinen Abschied vom Militär zu erlangen, den er auch erhielt.
Entsprechend der verlässlichen Angaben des Sulpicius Severus war Martinus zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt. Sein Geburtsjahr muss daher das Jahr 336 gewesen sein.

 

Exinde relicta militia sanctum Hilarium Pictavae episcopum civitatis ... expetiit et aliquando apud eum commoratus est. - Sodann suchte (Martin) nach seinem Ausscheiden aus dem Militär den heiligen Hilarius, Bischof der Stadt Poitiers, auf ... und blieb einige Zeit bei ihm. (Vita Sancti Martini 5,1).

 

Die Begegnung zwischen Hilarius und Martinus muss im Spätsommer oder Frühherbst 356 stattgefunden haben, da Hilarius nach dem Konzil von Biterrae (Béziers) von Constantius II. nach Phrygien in Kleinasien verbannt wurde und im Herbst 356 von Poitiers dorthin aufbrach*.

 

Nec multo post, cum sancto Hilario comperisset regis paenitentia potestatem indultam fuisse redeundi ... - Nicht viel später erfuhr er, dass der heilige Hilarius von dem reuigen Kaiser die Erlaubnis zur Rückkehr erhalten hatte...(Vita Sancti Martini 6,7). Hilarius wurde 360 pardoniert und kehrte über Rom nach Gallien zurück.

 

... ad convivium venit... Convivae autem aderant... praefectus idemque consul Euodius... - (Martin) ging zum Festbankett (bei Kaiser Maximus). Als Gäste waren anwesend ... Präfekt und zugleich Konsul Evodius...(Vita Sancti Martini 20,3-4).
Der Usurpator Magnus Maximus herrschte 383 bis 388 in Britannien, Spanien und Gallien. An einem Bankett in Trier nahmen Martinus und der amtierende Konsul des Jahres 385, Flavius Evodius teil. Martin trat damals beim Kaiser für den angeklagten Bischof Priscillinanus und dessen Anhängerschaft ein. Priscillianus wurde aber trotzdem als Ketzer und Häretiker hingerichtet weil er die Amtskirche teilweise in Frage stellte und auch für die Gleichstellung der Frauen eingetreten war*.

 

Aus diesen Angaben bei Sulpicius Severus lassen sich folgende verlässliche Daten zum Lebenslauf des Hl. Martin ableiten:
  • 336 wird Martinus in Savaria (Sabaria-Szombathely-Steinamanger) geboren
  • 337 - 351 Jugend in Ticinum (Pavia)
  • 348 will Martin mit 12 Jahren Einsiedler werden
  • 351 zum Miltärdienst nach Mediolanum (Mailand) eingezogen
  • 353 ab Herbst in der Leibgarde des Kaisers Constantius II. und mit ihm nach Gallien
  • Winter 353/354 Mantelteilung in Ambianenis (Amiens)
  • Anfang 354 Taufe im Alter von 18 Jahren
  • August 356 mit 20 Jahren Militärabschied von Caesar Iulian in Borbetomagus (Worms)
  • Herbst 356 bei Bischof Hilarius in Pictavae (Poitiers)
  • 356 - 359 Reise über die Alpen (Räuberepisode) nach Mediolanum und in seine Heimatstadt Ticinum, dann Konflikte mit Arianern in Illyrien (357-358 ?), Rückkehr nach Mediolanum und Einsiedleraufenthalt (358-360?) auf der Insel Gallinara
  • 360/361 Rückreise nach Pictavae, dort Gründung des Klosters in Logociacum (Ligugé)
  • 385 Ehrengast am Hof des Kaisers Maximus in Treveris (Trier) gemeinsam mit dem in diesem Jahr amtierenden Konsul Flavius Evodius.

 

Nicht nach Sulpicius Severus, der die Vita Martini ja noch zu Lebzeiten des Heiligen geschrieben hatte, sondern in Anlehnung an Gregor von Tours, der 200 Jahre später den selben Bischofsitz wie Martin innehatte, werden heute die Bischofswahl und das Todesjahr berechnet (Anm.).
  • 4. Juli 371 Wahl und Weihe zum Bischof von Touronum (Tours). Martin wurde, wie der Kirchenvater Cyprianus im 3.Jahrhundert vorschrieb (Anm.) und wie im 4. Jahrhundert noch allgemein in der Kirche üblich, vom Volk gewählt, sogar gegen den Willen anderer gallischer Bischöfe.
  • 8. November 397 Tod in Condacensium (Candes) und am 11.November Begräbnis in Touronum.

 

Seit kurzem sind diese Daten annähernd gleichlautend als Zeittafel auch auf der Homepage des Bistums Trier publiziert (Anm.). Eine ganz ähnliche Liste findet sich auf der Homepage der Martinsbasilika von Tours, dem Bischofsitz und Begräbnisort des heiligen Martin (Anm.). Als Geburtsjahr des Heiligen Martin wird in diesen beiden Kurzbiographien das Jahr 336 besonders betont.
Viele andere kirchliche Institutionen halten hingegen weiter an den fehlerhaften Martinus-Chronologien der Bischöfe Gregor von Tours und Jakobus von Voragine fest. Dem Laien Sulpicius Severus wird offenbar weniger hagiographische Kompetenz als diesen beiden Bischöfen zugemutet. In der Martinforschung haben sich daher zwei Richtungen entwickelt, die entweder für die „kurze“ und wissenschaftliche Chronologie (336-397), oder für die „lange“ und klerikale Chronologie (316-397) eintreten (Anm.).
Wie hier gezeigt wurde, ist bei einem Vergleich dieser beiden Chronologien der aus der Vita Sancti Martini des Sulpicius Severus gewonnenen kurzen Chronologie bei weitem der Vorzug zu geben und als Geburtsjahr das Jahr 336 als gesichert anzunehmen*. Denn die Daten zum Leben des heiligen Martin reihen sich in der Vita schlüssig und nahtlos aneinander, während den Angaben der nach Gregor von Tours erstellten langen Chronologie erhebliche historische Mängel anhaften. Martin Heinzelmann, der Biograph und Analytiker der Werke des Gregor von Tours hat schon 1994 festgestellt: „Gregors Chronologie ist aber nicht zuletzt eine falsche Spur, der das Publikum des Geschichtswerkes über Jahrhunderte hinaus blind gefolgt ist." (Anm.)

 

Für die Bedeutung des Martin als ganz großen Heiligen der Christenheit erscheint eine wissenschaftlich-penible Untersuchung wegen einer einzigen Jahreszahl vielleicht nicht notwendig zu sein. Doch entspricht die Suche nach dem tatsächlichen geschichtlichen Hintergrund der Intention des Sulpicius Severus, der den Wahrheitsgehalt seines Werkes besonders betont „probatum scripsisse“-„nur Wahrhaftiges habe ich geschrieben“(Vita Sancti Martini 1,9). Eine Heiligenvita ist heute auch nicht mehr eine von Zeit und Raum losgelöste Erbauungsliteratur wie im monastischen Mittelalter, sondern bezieht ihre Glaubwürdigkeit und Vorbildwirkung aus den historischen Fakten. Dies gilt besonders für die Überlieferungen des Lebens und Handelns des Heiligen Martin. Seine berühmte caritative Mantelteilung im jugendlichen Alter, die Abwendung vom Militär mit zwanzig Jahren, sein anschließendes Wirken als Soldat Christi im Kampf gegen Arianismus und Heidentum, die Klostergründungen, Krankenheilungen und sein volksfreundliches Bischofsamt sollten für viele Funktionen und Institutionen der Gegenwart richtungweisend sein. Außer dem falschen Geburtsjahr finden sich in den Erzählungen über den Heiligen Martin von Tours aber auch andere Unstimmigkeiten, legendenhafte Ausschmückungen und zweckorientierte Verfälschungen der antiken Überlieferung, wie die schon erwähnte Frage nach dem Geburtsort, die Reise nach Savaria zur Bekehrung seiner Eltern, die Farbe seines Mantels, oder die Diskussion ob die Mantelteilung zu Pferd oder zu Fuß erfolgte. Auch dazu bieten die Übersetzung und die Kommentare von Kurt Smolak in der 1997 in Eisenstadt erschienenen Vita Sancti Martini manch wertvollen Hinweis.

 

2-martinorte
Die spätantiken Martinorte in Europa nach R.Mensing 2004, S.9.

 

3-sulpsev.eisenstadt1997
Umschlag der Vita Sancti Martini des Sulpicius Severus, Martinus Verlag Eisenstadt 1997.

 

H I N W E I S

 

* Dieser Aufsatz ist im Juli 2010 gekürzt erschienen in: Kultur und Bildung Nr.2/2010, Zeitschrift des Burgenländischen Volksbildungswerkes, Eisenstadt 2010, S.19-22 (1 Abb.). Vgl.auch: www.volksbildungswerk.at/dokumente/2-2010/Martin%20von%20Tours.pdf.