a) Die Überbevölkerung
Das rapide Wachstum der Gemeinde hielt in diesem Zeitrum weiter an. Die Seelenzahl der Gemeinde:
Jahr | Bevölkerung |
1900 | 2.225 |
1910 | 2.789 |
1920 | 2.995 |
Die Seelenzahl der Kirchengemeinde nahm im selben Verhältnis zu:
Jahr | Kirchengemeindemitglieder |
1900 | 1.578 |
1910 | 1.952 |
1920 | 2.024 |
Diese Seelenzahl übersteigt somit die der Agendorfer Muttergemeinde. Die Bevölkerungsdichte erreichte so die 500: das Siebenfache des Landesdurchschnitts! Die Folgen der Überbevölkerung zeigten sich unverkennbar. Die Bevölkerung verarmte, viele litten Not. Die Hälfte der Bevölkerung war vermögenslos. Es war keine Seltenheit, daß eine 8-10 köpfige Familie ein kleines Zimmer bewohnte. Die Vitalität der Bevölkerung zeigte sich darin, daß sie sich auf Arbeitssuche aufmachte. Da die nacheinander entstehenden Ödenburger Fabriken und Industrieunternehmen den Arbeiterüberfluß nicht aufnehmen konnten, suchten viele bei den Industrieniederlassungen Österreichs Arbeit. Oft sogar so, daß sie nur zeitweise ihre daheimgebliebene Familie besuchten. Um 1903 begann eine Auswanderung nach Schlesien, Posen und Ostpreußen, und dann auch nach Amerika.
b) Antikirchliche Strömungen
Das vergangene Jahrhundert verwandelte nur die innere Struktur. Jetzt verließ die Gemeinde ihre Geschlossenehit und öffnete sich zur Welt hin. In die Ödenburger Fabriken brachte man aus dem Ausland Facharbeiter und Führungskräfte. Durch diese und die im Ausland gewesenen Arbeiter zog der moderne Geist in die Gemeinde ein, der damals schon auf marxistischer Grundlage sozialistisch, materialistisch und zumeist ganz öffentlich atheistsch und kirchenfeindlich war. Der Boden war in der Gemeinde dafür vorbereitet. Die durch die Verarmung heruntergekommene Bevölkerung erhielt nie die nötige kirchliche Betreuung. Dazu kam noch die Tätigkeit der zwei schon erwähnten Lehrer Philipp Nitschinger und Ignaz Ritzinger ,die ihre freidenkerischen Ideen nicht nur in der Schule, sondern auch unter der Bevölkerung verbreiteten. Dieser Geist verbreitete sich schnell. Schon in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts eroberte er den ansehnlichsten Teil der Gemeinde, gerade die tonangebenden Kreise, hauptsächlich die Männer.
c) Die Führung entgleist dem Pfarrer
Der Pfarrer versuchte die Zügel fest in der Hand zu behalten und nutzte auch die rechtlichen Möglichkeiten. Den Kirchensteuerrückstand ließ er wiederholt gerichtlich eintrieben. Dem Kuratur (Kirchenvater), der sich am Geld der Gemeinde vergriff, hing er ein Disziplinarverfahren an. Da er bei der Schule gute Beziehungen besaß, konnte er mit Hilfe des Schulamtes die Interessen der Kirche geltend machen. Aber die Führung der Gemeinde entglitt ihm. Vor 1905 war der Betsaal öfters überfüllt (Im Vergleich zur Zahl der Gemeindeglieder war das wenig), doch als er die zahllosen Bittgesuche zur Erreichung von Kirchenbau-Spenden schrieb, erwähnte er nie in der Begründung, daß im Betsaal zu wenig Platz sei. Aus seinen mündlcihen Mitteilungen wissen wir, dass nur allzu wenige die Gottesdienste besuchten. Die Hauptversammlungen der Gemeinde waren auch schlecht besucht. Bis 1910 nahmen 25-30 Männer daran teil, dann fiel plötzlich die Zahl der Teilnehmer auf 5 und nur ganz ausnahmsweise erreichte sie die 10. Edmund Scholtz klagte 1910 darüber, daß immer mehr Leute die kirchliche Trauung übergingen und sogar ihre Kinder nicht taufen und konfirmieren ließen. Er sah ganz klar, daß nur die Verselbständigung der Gemeinde diese Lage ändern könnte. Fleissig sammelte er für dieses Ziel die verschiedenen Spenden. Er nahm mit dem Lutherischen Gotteskasten und der Leitung des Gustav-Adolf-Vereines in Deutschland Verbindung auf, holte dieselben in unsere Gemeinde und machte sich auf eine Deutschlandreise auf, wo er fleissig Spenden sammelte. Die in- und ausländischen Spenden häuften sich, so daß man um 1910 an den Grundstückskauf, ja sogar na den Kirchen- und Pfarrhausbau denken konnte.
d) Die Gemeinde zieht sich in die Passivität zurück
Der Pfarrer konnte bei seiner Arbeit nicht mit der Hilfe der Gemeinde rechnen. Die Opferbereitschaft derselben rührte sich nicht. Im Jahre 1912 verweigerten der Kurator und der Kirchenvorstand die Unterschrift unter ein Auslands-Bittgesuch, weil nach der Aufzeichnung des Pfarrers "die Menge der Freidenker die Presbiter terrorisierte, damit sie ja nicht mehr solche Bittgesuche unterschrieben, denn Wandorf braucht weder einen Pfarrer, noch eine Kirche!" Wenn wir auch solche feindlichen Äußerungen nur vereinzelt unter den Aufzeichnungen finden, zweifellos, daß die Gemeinde im großen und ganzen passiv blieb. Von 1903 bis 1918, also in 15 Jahren, kamen zugunsten der Gemeindestiftung von der Gemeindekollekte lediglich 419 Kronen und Spenden in Höhe von 131 Kronen zusammen, im Gegensatz dazu 49.000 Kronen in- und ausländische Spenden. Die Gemeinde stellte sich langsam auf den Standpunkt, daß jede Hilfe nur von außen kommen könne.
Quelle: Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde in Wandorf
Prof. Pröhle (1950), übersetzt aus dem Ungarischen von Matthias Ziegler
Prof. Pröhle (1950), übersetzt aus dem Ungarischen von Matthias Ziegler