Werfen wir noch einen Blick auf das von ihren Männern und ihrer männlichen Jugend beraubten Harkau im letzten Kriegsjahr, im Winter 1944/45 ! Wie bereits erwähnt, wurden im September 1944 die männliche Jugend ab 17 Jahre und die Männer bis 50 Jahre einberufen. Die restliche Arbeit auf dem Felde und die Weinlese wurde von den Frauen und den älteren Männern verrichtet. Es halfen auch die auf kürzere oder längere Zeit in Harkau untergebrachten Volksdeutschen, die sich vom Inneren des Landes auf der Flucht befanden.
 
Im Oktober wurden 2000 Juden in Harkau wie in den anderen Dörfern der Umgebung untergebracht. Sie sollten mit den Frauen und Mädchen des Dorfes den" Panzerwall an der Ostgrenze des Reiches" graben. Wie mir erzählt wurde, waren etwa 50-60 jüdische Männer oder Frauen in einer Scheune untergebracht. Da das Wachpersonal in den Häusern einquartiert war, mußten die volksdeutschen Flüchtlinge aus dem Inneren Ungarns weiterziehen in die damalige Ostmark.
 
In den zugigen, unheizbaren Scheunen ohne Waschmöglichkeiten und hygienischen Einrichtungen war die Sterblichkeit unter den armen Zwangsarbeitern sehr groß. Dazu kam noch die schlechte Ernährung. Meine Mutter erzählte, daß sie gegen Abend oft einen Kessel Kartoffeln kochte, und wenn die Wachmannschaften in ihren Quartieren verschwunden waren, kamen die hungrigen Juden auf ein Zeichen und holten den Kessel voll heißer Pellkartoffeln. Und das taten viele andere Harkauer auch. Als mein Vater einmal tagsüber, die j Juden waren beim Stellungsbau, in unserer Scheune Mais holen ging, stellte er fest, daß zwar in den ersten Reihen die Maiskolben noch voll behangen waren, aber in den hinteren Reihen waren die Maiskolben leer. Die hungrigen Juden hatten sie entkörnt und die Maiskörner roh zwischen den Zähnen zermalmt und gegessen. Mein Vater meinte, wenn er es uns später erzählte: "Ich hätte die Juden ja anzeigen können, aber ich sagte mir, hätten sie nicht solchen Hunger gehabt, hätten sie nicht die rohen Maiskörner gegessen. Für sie ging es nur darum, die paar Monate noch zu überleben. In der Nachbarscheune lag K. Joschi, den wir ja gut kannten, dem habe ich oft ein Zeichen gegeben, er solle zur Strohtristen kommen, wenn ich Stroh für die Tiere holte. Dort übergab ich ihm oft Brot und Speck, weil mir die Leute leid taten. Wenn die älteren Männer Wache schieben mußten, war es immer einfacher. Ich sah einmal, wie ein Jude einen älteren Wachmann bat, er solle ihm erlauben, den eben erhaltenen heißen Kaffee seiner Frau zu bringen, die in der vierten Nachbarscheune untergebracht sei. Der ältere Wachmann erlaubte es ohne viel Aufsehens. Es gab trotz allem immer noch Menschlichkeit! Die jungen Aufseher hätten so etwas nie erlaubt, das wußten auch die Juden." "Diese ausgemergelten, halb verhungerten, frierenden Juden, die dazu auch noch keinerlei schwere körperliche Arbeit gewohnt waren, sollten gemeinsam mit den Harkauer Frauen und alten Männern mit einfachen Werkzeugen wie Spaten, Schaufeln und Pickeln Panzergräben ausheben. Dazu war in dem strengen Winter der Boden steinhart gefroren. Es war oft ein Anblick des Grauens", erzählte eine Frau, die dabei war. Etwas besser hatten es die Juden, die dazu eingeteilt waren, bei den Bauern zu arbeiten, Vieh zu füttern, Holz zum Stellungsbau vom Wald holen u.a. Diese erhielten nämlich von den Familien Zusatzverpflegung. So arbeitete bei meinen Eltern ein ehemaliger Konditormeister aus dem Wieselburger Komitat. Er dürfte das Kriegsende - für ihn die Befreiung - sicher erlebt haben. Aber viele Juden starben in Harkau, sie wurden am Waldrand, vor dem "Distelspitz", in diesem Spätwinter in einem Massengrab begraben. Als die Kampfhandlungen immer näher rückten, wurden die Juden, Männer und Frauen, in Kolonnen nach dem Westen getrieben. Wie weit sie kamen? Schon während des Jahres 1944 gab es in Ödenburg und Umgebung unzählige Mal Fliegeralarm. Die Sirenen heulten. Allmählich gewöhnten sich die meisten schon daran, denn die vielen "Silbervögel", die Bomber überquerten zwar die Gegend, luden aber ihre vernichtende, todbringende Last erst in Wiener-Neustadt ab, wo Flugzeugteile hergestellt wurden.
 
Nach Abdankung, bzw. Absetzung Horthys, am 15. Oktober 1944, hatten die ung. Nationalsozialisten, die "Pfeilkreuzler" unter ihrem Führer Szálasi die Gewalt in Ungarn ausgeübt. Während des Winters, bevor noch Budapest, die Hauptstadt Ungarns, von der roten Armee eingeschlossen wurde;, floh die ung. Regierung nach Ödenburg, der westlichsten Stadt Ungarns. Da diese also in Ödenburg ihr Quartier bezogen hatte, erfolgten die Luftangriffe auch auf Ödenburg. Am 6. Dezember und am 8. März wurde die Stadt, besonders die Innenstadt und die Eisenbahnlinien, bombardiert. Auch ein älterer Harkauer Mann, der mit seinem Pferdefuhrwerk aus der Stadt fahren wollte, wurde kurz vor dem Bahnübergang von einer Bombe getötet, sein Fuhrwerk vernichtet.
 
Nun kam während des Winters neben der körperlichen Anstrengung auch noch die seelische Belastung. Unter den Juden brach der Flecktyphus aus. Da mußten alle Inwohner des Dorfes, die Soldaten, die Flüchtlinge und natürlich die Juden und ihr Wachpersonal gegen Flecktyphus geimpft werden. Budapest wurde von der Roten Armee eingekreist, zu dessen Verteidigung doch so viele Harkauer, "fast Kinder noch" eingesetzt waren. Ob sie wohl noch herauskommen konnten aus dem Kessel? Ob sie noch am Leben sind? Dann kam wieder ein Brief mit der Aufschrift: "Gefallen für Großdeutschland" zurück. Die Ungewißheit über die vielen Angehörigen an allen Fronten, sie bürdete unbeschreibliche psychische Belastung auf unsere noch in Harkau weilende Bevölkerung! Währenddessen rückte die Front immer näher an Harkau selbst. Jetzt erst recht waren sie gefordert, denn sie mußten die Entscheidung treffen: entweder flüchten oder im Kampfgebiet bleiben.
 
Quelle: "Harkau - mein Heimatdorf ",
die Geschichte eines deutschen Bauerndorfes in Westungarn
Andreas Schindler (1987)