András Krisch
 
Die Vertreibung der Deutschen aus Ödenburg 1946 [Anm.]
 
Die Vertreibung der Deutschen aus Ödenburg gehört in eine riesige Völkerbewegung. Aus Osteuropa wurden 14-15 Millionen Deutsche vertrieben, ausgesiedelt oder ergriffen die Flucht. Zu dieser Vertreibung kam es aus diversen Gründen.
 
Die „ethnische Entmischung” erschien schon nach dem ersten Weltkrieg. Die praktische Durchführung von diesem Modell wurde auch von Hitler propagiert, obwohl es in Ungarn nur theoretisch erschienen ist, in anderen Ländern wurde es angewandt. Diese waren die so genannten „Heim ins Reich”-Aktionen, die Rücksiedlung der „bedrohten” deutschen Streusiedlungen ins Deutsche Reich.
 
Die Definition des Nationalstaates verlangte nach ethnischer Homogenität, so dass die Minderheiten zunehmend als Störfaktoren betrachtet wurden. Besonders traf dies auf die Deutschen zu, die laut Propaganda einen „Staat im Staate” bildeten, bzw. als die „Quartiermacher Hitlers“ galten. In der öffentlichen Meinung führten genau solche Argumente zur Besetzung Ungarns am 19. März 1944 durch die deutsche Wehrmacht. Gegen Ende des Krieges bekam in Ungarn die Vorstellung ein immer größeres Gewicht, wonach alle Deutschen aus Osteuropa vertrieben werden sollten (natürlich dachten die ungarischen Politiker nicht in europäischer Dimension), was als Racheakt und Vergeltung für die im Krieg erlittenen Niederlagen und Schäden zu bewerten ist. Eine wichtige Rolle spielte bei der Vertreibung das deutsche Vermögen im Interesse einer erfolgreichen Durchführung der Bodenreform, in erster Linie die Immobilien. In solchen Fällen waren die politischen Ansichten des Einzelnen überhaupt nicht ausschlaggebend. Die Tragödie der Deutschen war, dass ihre Vertreibung auch nicht gegen den Willen der Großmächte war.[Anm.]
 
Der Weg zur ungarischen Aussiedlungsverordnung war keineswegs gerade oder einfach. Dieser Weg wurde von den ungarischen Parteien, der ungarischen Regierung, der tschechoslowakischen Regierung, dem Kontrollrat der Alliierten (KRA) und die Großmächte mitbestimmt. Die Meinung der einzelnen Seiten war unterschiedlich und veränderte sich während der Zeit, sie reichte von der Parole „Sie sind mit einem Bündel gekommen, sie sollten jetzt mit einem Bündel gehen!“ bis hin zu der totalen Zurückweisung der kollektiven Bestrafung.
 
Man muss aber betonen, dass die Vertreibung der Ungarndeutschen keineswegs von den Großmächten verlangt wurde, sie haben nur die Möglichkeit dazu angeboten. Die ungarische Regierung verlangte in einer Note vom 26. Mai von der Sowjetunion, die Möglichkeit, eine „Aussiedlung“ von 200–250000 Volksdeutschen zu gewähren, obwohl diese Maßnahme ursprünglich nur für Volksbund-Mitglieder gedacht war, damit ist diese Frage auf die Bühne der Großpolitik gelangt.[Anm.]
 
Auf der Potsdamer Konferenz wurde außer der bereits angelaufenen Vertreibung aus Polen und der Tschechoslowakei auch die Frage der Vertreibung der Deutschen aus Ungarn zur Sprache gebracht. Im Falle der ersten beiden Staaten war das Ziel die Vertreibungen in einen organisierten und etwas menschlicheren Rahmen zu bringen. Auch die Anzahl der zu vertreibenden Personen wurde hier nicht festgelegt.
 
Nach der Potsdamer Konferenz veränderte sich auch die Meinung der Parteien geringfügig. Die Nationale Bauernpartei und die Kommunistische Partei unterstützte die Vertreibung der Deutschen nach wie vor, aber die Kleinlandwirtepartei hätte im Gegensatz zu ihrer Agitation im Frühling 1945 jetzt von dieser „Lösung“ der deutschen Frage schon deutlich Abstand genommen.
 
Am 20. Dezember rief der Kontrollrat der Alliierten die Leitung des Landes auf, ihre Vertreter nach Frankfurt, bzw. Berlin zu schicken, um die Fragen bezüglich der Vertreibung zu klären. Danach kam es zur entscheidenden Sitzung der Regierung am 22. Dezember. An der von Ministerpräsidenten Zoltán Tildy geleiteten Sitzung des Ministerrates wurde die vom Innenminister Imre Nagy eingereichte Verordnung von der Regierung bei zwei Gegenstimmen angenommen. Dieser Erlass hielt die Kollektivschuld der hiesigen deutschen Minderheit fest.[Anm.] Während der Diskussion fasste der Minister für Wiederaufbau, József Antall sen. seine Meinung folgendermaßen zusammen: „Aus nationspolitischer Sicht steht es außer Frage, dass es im Interesse Ungarns liegt, dass die Deutschen in möglichst hoher Zahl das Land verlassen. Es kommt nie wieder so eine Chance, die Deutschen loszuwerden.“[Anm.]
 
Gegen die Verordnung protestierten mehrere Experten. Einige wiesen auf die juristischen Schwächen hin, z.B. gab es keine Möglichkeit, gegen die Vertreibungsentscheidung ein Rechtsmittel einzulegen; ferner auf die damit verbundene Gefahr, die Vertreibung als Präzedenzfall gegen die ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten auszunutzen und schließlich auf die Rechtsverletzungen, denn dem Statistischen Zentralamt war es gesetzlich verboten, Daten an Ämter weiterzugeben. Die Verordnung blieb auch in der Außenpolitik nicht ohne Widerhall. Nach Auffassung der Regierung der USA war die Note des Alliierten Kontrollrats vom 20. November nicht als Aufforderung zur Vertreibung von 500.000 Deutschen zu interpretieren.
 
Nach der Verordnung 12330/1945 waren zur Umsiedlung diejenigen ungarischen Staatsbürger verpflichtet, die sich bei der Volkszählung 1941 zur deutschen Nationalität oder zur deutschen Muttersprache bekannt, oder die ihren magyarisierten Namen in einen deutsch klingenden abgeändert hatten, bzw. auch diejenigen, die Mitglieder des Volksbundes oder einer bewaffneten deutschen Formation (Waffen-SS) gewesen waren.
 
Die „Aussiedlungsverordnung“ veränderte das Leben in Ödenburg von Tausenden. Die Geschehnisse vom 29. Dezember 1945 bis Mai 1946 gehören zu den unsichersten Zeiten in der Geschichte der Deutschen von Ödenburg. Die Gefühlslage der Menschen veränderte sich während der Entwicklungen ständig und wechselte von der Zuversicht bis zur endgültigen Verzweiflung. Vom Erscheinen des Aussiedlungserlasses bis zur Anreise der „Aussiedlungskommission“ vergingen mehrere Monate.
 
Die beiden wichtigsten Konfessionen, die evangelische und die katholische Kirche, nahmen gegen die ungerechte Durchführung der Vertreibung Stellung. Im Falle der Parteien war die Lage nicht mehr so eindeutig. Für die Befreiung jener Bewohner der Stadt und der acht umliegenden Ortschaften des Volksabstimmungsgebietes von 1921, die als Muttersprache Deutsch, aber als Nationalität Ungarisch angegeben hatten, begann die Ödenburger Ortsgruppe der Kleinlandewirtepartei und später mit ihr zusammen die Sozialdemokraten sich einzusetzen. Diese beiden Parteien hatten schon vor 1945 unter den Ungarndeutschen eine gewisse Basis, was nicht auf die gegen sie in einer „Einheitsfront“ agierenden Kommunisten und der Nationalen Bauernpartei zutraf.[Anm.]
 
Die wichtigsten Entscheidungen wurden nicht vor Ort getroffen, sondern in Budapest, wo zwischen den Koalitionsparteien zu dieser Zeit schon ein erbitterter Kampf tobte. Auch die Stadtführung identifizierte sich mit den Befreiungsaktionen der Kleinlandwirtepartei, ihr Gegner war in erster Linie der Nationalausschuss, worin kommunistische Politiker und Mitglieder der Bauernpartei den Ton angaben. Viele konnten es nicht fassen, dass kurz nach der Deportation der Juden wieder Menschen mit Gewalt von ihrem Wohnort fortgeschleppt und zum Verlassen des Landes gezwungen werden.
 
In Ödenburg starteten die Kirchen den ersten Versuch, die Deutschen von Ödenburg zu retten. Der evangelische Dekan Ludwig Ziermann vertraute sehr der Regierungskoalition unter Leitung der Kleinlandwirtepartei, aber wie er selber schreibt, „wir wurden enttäuscht“.[Anm.] Die Kirchenleiter gaben den Gläubigen vor der Volkszählung 1941 den Rat, dass diese ruhig ihre deutsche Muttersprache angeben sollten, aber dazu die ungarische Nationalität. Dieser Rat wurde ihnen dann fünf Jahre später zum Verhängnis. Von der Verordnung waren sowieso viele evangelische Gemeindemitglieder bzw. evangelische Lehrer betroffen, da in der Leitung, und in den Mitgliedern vom Volksbund, bzw. in der örtlichen Volksbundschule, die Evangelischen stark vertreten waren. Deswegen behandelte der Presbyterrat der evangelischen Kirchengemeinde schon an seiner Sitzung am 7. Januar 1946 die Aussiedlungsverordnung. Vor allem die kollektive Bestrafung der Deutschen schien für sie besorgniserregend zu sein, weil dadurch eine Gemeinde stark betroffen sein würde, die einst Heimat Christoph Lackners, Ferdinand Dobners, Moritz Kolbenheyers, Friedrich Röschs oder Viktor Altdörfers war. Entsprechend des Beschlusses der Sitzung suchte Ludwig Ziermann den Hauptarchivar Jeno" Házi auf, der zur Ödenburger Leitung der Kleinlandwirtepartei gehörte und auch der Konventsleiter der katholischen Kirchengemeinde war, damit die beiden Kirchen gemeinsam mit einem Adressenentwurf an die Regierung treten, um auf die besondere Lage der Stadt wegen der Volksabstimmung 1921 hinzuweisen. Als minimales Ziel haben sie die Befreiung der deutschen Muttersprachler festgehalten, die ungarisch als Nationalität angegeben haben. Dieser Antragsentwurf diente als Grundlage des späteren Antragsentwurfes der Stadt. [Anm.] Das Memorandum wurde am 15. Januar 1946 per Post abgeschickt, einen Absatz möchte ich zitieren:
 
[...] Da wir der Überzeugung sind, dass die Angabe der deutschen oder anderen fremden Muttersprache entsprechend der tausendjährigen Traditionen von Ungarn kein Sünde sein und so zu keiner Bestrafung führen kann, aus diesem Grunde wenden wir unterzeichnende Ödenburger rh-kat. und ev. Kirchengemeinden uns mit der Bitte an den Herrn Ministerpräsidenten, dass er den betroffenen Erlass in dem Sinne ändern sollte, dass alle ungarische Staatbürger deutscher Muttersprache, die als Nationalität ungarisch angaben, ohne weitere Nachweisverfahren von der Umsiedlung befreit werden und falls landesweit diese unsere berechtigte Bitte aus irgendeinem Grund nicht zu erfüllen ist, dann soll sie auf Grund der oben angeführte Tatsachen auf jeden Fall in Bezug auf die Stadt Ödenburg und ihre Umgebung angewandt werden, als eine berechtigte Belohnung für die bei der Volksabstimmung 1921 gezeigte Staatstreue.
 
Ödenburg, den 15. Januar 1945
Jeno" Házi dr. m.p., Vorsitzender des rh-kat. Konvents, Hauptarchivar
Johann Prickler m.p., evang. Gemeindeinspektor, Bankdirektor
Kálmán Papp m.p., Vizevorsitzender des rh-kat. Konvents, Stadtpfarrer, Abt
Ludwig Ziermann m.p., evang. Dekan, der kirchliche Vorsitzende des Konvents[Anm.]
 
Die unterzeichnenden Personen hatten mit Recht das Gefühl gehabt, dass die ungarische Regierung jetzt wirklich ihre Dankbarkeit ausdrücken kann, weil Ödenburg mit den Stimmen der Deutschen von Ödenburg bei Ungarn blieb. Die Eile war berechtigt, da schon am nächsten Tag, am 16. Januar 1946 die Durchführungsbestimmung der Vertreibung in der Stadt ankam.
 
Die Geschehnisse vom Januar bis April kann man folgendermaßen zusammenfassen: Die Ortsgruppe der Kleinlandwirtepartei, und später die Sozialdemokraten, die zwei Kirchen mit der Unterstützung des Stadtrates, wenn auch nicht immer einheitlich (Bürgermeister Lajos Fábján war Sozialdemokrat, Vizebürgermeister József Molnár Kommunist), der Obergespann und die Parlamentsabgeordneten der Stadt, versuchten die Deutschen mit ungarischer Nationalität, aber mit deutscher Muttersprache zu befreien. Sie schickten in diesen Monaten mehrere Delegationen nach Budapest und mehrere Memoranden stellten sie zusammen, leider ohne Erfolg. Den Grund bildete immer die spezifische Lage des Deutschtums auf dem Volksabstimmungsgebiet. Dieser Kreis erhielt sogar das wörtliche Versprechen des Ministerpräsidenten, dass Personen mit ungarischer Nationalität nicht vertrieben werden. Das entscheidende Wort hatte aber in der Koalitionsregierung das von den Kommunisten geleitete Innenministerium. Zu diesem Ministerium gehörte das Volksfürsorgeamt, das für die konkrete Durchführung der Vertreibung zuständig war. Trotz aller Versuche erschien Anfang April ein Brief von József Nárai Leiter des III. Regierungskommissariats, dass die Stadtverwaltung drei Vorkehrungen treffen muss.[Anm.]
 
Einerseits musste die Stadt Vorkehrungen zum Empfang des Regierungskommissariats treffen. Insgesamt sind ca. 300 Polizisten und 120 Angestellte angekommen, sie brauchten Büro, Tische, Stühle, Schränke. Die Stadt musste außerdem die Einwohner zusammenzählen, weil seit 1941 mehrere Veränderungen vorkamen, viele verließen inzwischen die Stadt, heirateten, dadurch hat sich ihr Name verändert, viele sind umgezogen. Für diese Arbeit waren 4 Tage vorgesehen, die sich als zu wenig erwiesen. Drittens, und das war eigentlich die schwerste Aufgabe: die Stadt musste laut dem Erlass des Innenministers das Vermögen der Vertriebenen beschlagnahmen. Als Beispiel möchte ich den wohl berühmten Ödenburger Wein erwähnen. Der Wein der Vertriebenen war auch Teil des Nationalvermögens. Bezüglich der Einsammlung der Weine gab es bereits am 3. Mai schwerwiegende Probleme, denn im Sinne der Verordnung des Ministerialkommissars musste die Kommission die Weine im Keller der Ursuliten in der Ferenc-Lehár-Straße einsammeln. Die Polizei hat jedoch, sich auf den Ministerialkommissar berufend, auch Wein eingesammelt. Der Kommissar Náray hat sogar noch vor der Vertreibung die Weine aufgrund einer offenen Verordnung abliefern lassen. Diese Missbräuche verursachten der Stadt einen bedeutenden Ausfall der Steuereinnahmen. [Anm.]
 
Unsere Tage sind zurzeit nicht still und ruhevoll. Unsere Herzen und Seelen sind mit vielen Besorgnissen und Verzweiflung erfüllt. Das Gespenst der Vertreibung und die Zerstörung bedrohen unsere Diözese, und auch unsere Gemeinde” – liest man im Protokolleintrag der Sitzung des Kirchenrates der Ödenburger evangelischen Gemeinde am 11. April. [Anm.] „Die sündhafte Tragik der Vertreibung ist das verhängnisvollste Ereignis in der ganzen Geschichte dieser westlichen Festung Ungarns.“ – schrieb Jeno" Házi.[Anm.]
 
Am 20. April wurde die erste Vertreibungsliste im sg. Festo"terem und noch an verschiedenen Stellen ausgehängt und genau eine Woche später begann die praktische Durchführung der Vertreibung.
Die Vertreibung betraf die evangelische Kirche besonders hart. Die Durchführung der Verordnung konnte jederzeit erfolgen, die evangelischen Seelsorger haben deshalb die gefährdeten 86 deutschen und 60 ungarischen Konfirmanden am 25. April konfirmiert. Die Seelsorger Karl Hanzmann und Ludwig Ziermann berichteten darüber wie folgt: „Wir zogen um 6 Uhr am Nachmittag unter Glockengeläute unter Anwesenheit einer großen Menschenmenge in die Kirche ein. […] Die Mädchen trugen alle weiße und die Jungen dunkle Kleider. In unserer Kirche war eine riesige Menschenmenge, ungefähr 3500 Menschen. […] Ich kann meine Emotionen beherrschen und gehöre nicht zu den Weinenden und andere zum Weinen bringenden Seelsorger, muss aber gestehen, dass mir der Gottesdienst nur selten so schwer fiel, wie dieses Mal. Ich wollte dem Evangelium treu dienen, während ich meine Tränen verschluckte. Die ganze Gemeinde weinte während meiner 14 Minuten dauernden Predigt.” Dekan Ludwig Ziermann berief sich im Schlusswort auf ein Gemälde von Christoph Lackner, sowie auf dessen Aufschrift: „Mergitur, non submergitur.” (Taucht unter, versinkt aber nicht.) „Die Stadt und die Bevölkerung Ödenburgs, die Vertriebenen und die zu Hause verbliebenen Menschen tauchen zwar unter, sie werden aber nicht versinken. Gott wird dafür schon sorgen.”[Anm.]
 
Die Eile war völlig begründet, da der erste Zug bereits am 27. April 1946 abfuhr, der früher die bereits internierten Volksbundmitglieder und ihre Familienmitglieder transportierte, und am 28. April 1946 begann das Einwaggonieren der Menschen deutscher Muttersprache. Damit begann die praktische Durchführung der Vertreibung.[Anm.]
 
Die ungarischen Behörden versuchten, die Vertreibung „human“ durchzuführen: Die zur Vertreibung gezwungenen Menschen konnten ihr Geld, ausgenommen fremde Währung, ihre Wertsachen, 20 kg Lebensmittel und insgesamt 100 kg Gepäck pro Person mit sich nehmen. Viele wussten nicht, was sie ganz schnell zusammenpacken sollten. Man musste schnell entscheiden, was wichtig und wertvoll, und was es nicht wert war, mitzunehmen.
 
Die Beschreibungen der Augenzeugen Ludwig Ziermann und Karl Hanzmann vermitteln die Stimmung der zu vertreibenden Menschen und die auf den beiden Bahnhöfen herrschende Verbitterung. Die drei Seelsorger (der dritte war Paul Beyer) erhielten keine offizielle Genehmigung, sich von ihren Gläubigen am Bahnhof zu verabschieden und zu ihren Ehren die Glocken der evangelischen Kirche läuten zu lassen. Am 27. April 1946, am Samstag standen die zwei Seelsorger am Ausgang des ROeEE-Bahnhofs [Anm.] und nahmen von den vertriebenen Personen Abschied. Am folgenden Tag wurde auf einem Nebengleis des Südbahnhofes ein aus 48 Waggons bestehender Zug zusammengestellt. Die Seelsorger nahmen hier trotz des Verbotes bei den einzelnen Waggons von den Gläubigen Abschied. Am 30. April wurde bereits ein dritter Vertreibungstransport am ROeEE-Bahnhof zusammengestellt. Auch diesmal gelang es ihnen, sich von den Menschen in den Waggons zu verabschieden. Am 1. Mai 1946 jedoch wurden alle drei Seelsorger, von „einem kleinen Polizeileutnant“ vom Platz verwiesen. Die Seelsorger protestierten mit der Begründung, dass auch Verbrecher, die zum Richtplatz geführt werden, Anspruch auf einen Priester hätten. Darauf entgegnete der Polizist rasch: „Das hier ist kein Richtplatz.” Die Seelsorger gaben aber nicht auf, und wollten am folgenden Tag die Waggons wieder besuchen. Ein Hauptmann forderte sie auf, ihre Genehmigung vorzuzeigen. Da sie über keinerlei verfügten, wurden sie aufgefordert, sich zu entfernen. Der 72 Jahre alte Ziermann konnte nur langsam gehen, worauf ihm der Polizist Folgendes sagte: „Wenn ich 72 Jahre alt werde, werde ich zu Hause hocken und gewiss nicht die Schwaben trösten!” Bis zu diesem Zeitpunkt schüttelten die Geistlichen etwa 4.600 Menschen die Hände, wagten es jedoch danach nicht mehr, auf den Bahnhof zu gehen, sondern verabschiedeten die Gläubigen in ihren Häusern oder unterwegs. Die Frömmigkeit und die Heimatliebe der Menschen spiegeln sich in den Abschiedsworten wider, die auf die Waggons aufgeschrieben wurden. „Siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an das Weltende.“ „Ist Gott mit uns, wer mag wider uns sein?“ „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt.“ „Eine feste Burg ist unser Gott.“ „Mit Gott.“ „Wenn Menschen auseinander gehen, so sagen sie auf Wiedersehen.“ „Es ist bestimmt in Gottes Rat, dass man vom Liebsten, was man hat, muss scheiden.“ „Aus dem Vaterland, ins Mutterland.” Man konnte jedoch nicht nur deutsche, sondern auch ungarische Zitate lesen: „Isten, áldd meg a magyart.“ „Hazádnak rendületlenu"l légy híve, oh magyar.“[Anm.] „Meghalt Mátyás, oda az igazság.“[Anm.]
 
Als die Seelsorger noch den Bahnhof betreten durften, sangen die männlichen Mitglieder der vor der Vertreibung stehenden Göschl-Familie als Abschied ein deutsches Lied zu Ehren der Seelsorger. „Die meisten weinten, es gab solche, die verbittert lächelten. Einige beteten und baten uns, mit ihnen zu gehen. Es gab solche, die uns von Waggon zu Waggon begleiteten. Einige baten uns, etwas im zu unternehmen, damit sie zurückkehren dürfen. Einige tranken bereits den mitgebrachten Wein viel. Einige fragten uns: sind wir wirklich so große Verbrecher, dass man uns aus unserer Heimat verjagen muss? Einige Männer zeigten uns ihre verhornte Handflächen und die Narben, die sie in den beiden Weltkriegen erhalten haben, sie zeigten uns ihre verletzten Hände und Füße, die sie in der Verteidigung der Heimat erlitten haben. Was wird das Schicksal unserer schönen Kirche, die noch von unseren Vätern gebaut wurde, fragten Hunderte von Menschen. Denken Sie an uns, beten Sie für uns, vergessen Sie uns nicht.” Je länger die Vertreibung dauerte, desto leerer wurden die Straßen, vor allem im Wirtschaftsbürger-Viertel. „In einigen Straßen blieben nur einige Familien oder Familienmitglieder zurück. In Ödenburg ist – wie ich höre – alles in Ordnung – berichtete der Leiter der Vertreibungsaktion dem Innenminister. Er hätte auch berichten können, dass in Ödenburg alles still ist. […]
 
Ödenburg wurde eine ausgestorbene Stadt. Aber nein, in den Wirtschaftsbürger-Vierteln wird der Wein in großen Fässern, in kleinen Fässern, in verschiedenen Gefäßen, sowie Mehl, Schmalz und andere Lebensmittel weggebracht, die Russen helfen der neuen Polizei, und sowohl sie als auch die anderen sind vom vielen Wein betrunken.” Zimmermann erwähnt in seinen Aufzeichnungen, wie man für etwas Gold oder Währung Befreiung erhalten konnte, was die Ungerechtigkeiten und Missbräuche noch weiter steigerte.[Anm.]
 
Alajos Németh, katholischer Pfarrer und Lokalhistoriker schrieb über die Vertreibung unter anderem Folgendes: „Die Vertreibungen begannen am 20. April 1946. Die Durchführung erfolgte durch Polizisten, die aus Budapest kamen und eine Tellermütze trugen, und diese waren nicht gerade schonungsvoll. Es war ja auch kein Wunder. Die neue Polizei nach dem Krieg bestand aus neu angeworbenem hergelaufenem Gesindel, das weder Erfahrung, noch Moral dazu hatte, die Mitmenschen human zu behandeln. Es gab natürlich auch Ausnahmen. Das Namensverzeichnis der zu vertreibenden Personen wurde am Stadthaus und auch anderswo ausgehängt. Die Betroffenen lasen diese Verzeichnisse in großen Gruppen angeregt durch. Mehrere tausend Menschen wurden aus der Stadt vertrieben. Auf der Liste gab es mehrere bekannte Namen, alte, hoch geachtete Ödenburger Familien: Intellektuelle, Händler, Handwerker, Unteroffiziere, Arbeiter, jedoch vor allem Wirtschaftsbürger. […] Auch die persönliche Rache, sowie andere selbstsüchtige Interessen kamen bei den Vertreibungen zur Geltung, wie zum Beispiel die Erschaffung der Äcker und der Häuser der Vertriebenen. Die Vertriebenen durften nicht vie mit sich nehmen. Sie mussten alles da lassen, wofür sie ein ganzes Leben lang mit Herz und Seele gearbeitet haben: Boden, Haus, Tiere, Werkzeuge, Kirche und Friedhof. Was zum Mitnehmen genehmigt wurde, das wurde auf Wagen geladen und sie gingen in der Begleitung der Polizei zum Bahnhof. […] Als sie mich erkannten, nahmen sie von mir weinend Abschied. Viele waren empört und sagten mir, wie viele „aus der Liste der Vertriebenen” gestrichen wurden, obwohl diese es auch verdient hätten, sie traten aber noch rechtzeitig in die kommunistische Partei ein.”[Anm.]
 
Anfang Mai berichtete Károly Vas, Leiter der Ödenburger Kleinlandwirtepartei über seine Reise nach Budapest, die keine Ergebnisse brachte. Auch eine Denkschrift wurde den Anglosachsen zugeschickt, in der die Situation in Ödenburg dargestellt und um ihren Eingriff ersucht wurde. Béla Varga katholischer Pfarrer und Parlamentspräsident sagte ihm folgendes: „Lasst die Deutschen das Land verlassen, sie werden im Ausland ein besseres Schicksal haben, als zu Hause in diesem Misthaufen.”[Anm.]
 
Am 1. Mai reiste der Obergespan wieder nach Budapest, und er beabsichtigte, seine Entlassung einzureichen, sollte er kein Ergebnis erreichen. Házi schrieb folgendes: „Ich erfuhr übrigens am Morgen auch, dass die zwei Züge Ágfalva verlassen haben, der ungarische Ministerpräsident konnte also sein Wort nicht halten, oder hat er auch gelogen? Du lieber Gott, wo sind wir? Ist das nicht der größte kommunistische Alptraum mit den eine Statistenrolle spielenden Kleinwirten? Ich schäme mich dafür, ein Ungar zu sein!”[Anm.]
 
Laut der neuen Informationen tat der Ministerpräsident wirklich alles, konnte jedoch wegen zwei Umständen nur schwierig etwas erreichen. Der eine Umstand war die Hartnäckigkeit des Innenministers László Rajk, hinter dem die Russen standen, und den man sogar noch durch Mátyás Rákosi zu beeinflussen versuchte, andererseits befürchtete man, dass Österreich die Angelegenheit von Ödenburg und des Volksabstimmungsgebietes in die Rede bringen wird, so musste man das Nachbarland vor vollendete Tatsachen stellen, also mit der schnellen Vertreibung kann Österreich sich nicht mehr auf die Nationalitätenfrage berufen.[Anm.]
 
Am 7. Mai verließ das III. Vertreibungskommissariat Ödenburg. Die übrig gebliebenen Aufgaben schloss das II. Kommissariat unter der Leitung von Andor Balogh ab. Náray beabsichtigte, wenn auch nur für kurze Zeit, nach Ödenburg zurückzukehren. Er hatte die Meinung, dass Ödenburg eine problematische Stadt sei, weil er „so viele Aktionen für die Rettung der Schwaben, wie in Ödenburg, noch nirgendwo erfahren hat”.[Anm.]
 
Mit dem Abschluss der Vertreibung am 16. Mai um 12 Uhr setzte der Vertreibungskommissar des II. Kommissariats, Andor Balogh in seinem in Kópháza geschriebenen Brief das verordnete Alkoholverbot, die Ausstellung der Ausweise zur Reise und zur freien Bewegung, die Verpflichtung zur Waffeneingabe sowie die Verbote bezüglich der Bewegungen in der Nacht außer Geltung.[Anm.]
 
Die Feststellung der genauen Anzahl der Vertriebenen und der Befreiten konnte man schon nach dem Abschluss der Vertreibung nicht feststellen. Am 3. Juni konnte der stellvertretende Bürgermeister nur so viel melden, dass ungefähr 6.600–7.000 Menschen vertrieben wurden.[Anm.] Am 30. August konnte in Ödenburg die genaue Zahl der Vertriebenen immer noch nicht angegeben werden: „Wegen der allgemein bekannten Ursachen, kann ich die Angaben nicht schicken. Es kann bezüglich ungefähr 4.000 Personen nicht festgestellt werden, was mit ihnen geschehen ist” – lautete die Antwort auf die Anfrage des Bodenverteilungsausschuss.[Anm.]
 
Karl Hanzmann schrieb in seinen Memoiren in Verbindung mit der evangelischen Kirchengemeinde Folgendes: „…die Vertreibung betrifft unsere Gemeinde hart. Der Verlust der Zahl der Gläubigen wird nie genau festgestellt werden können, es konnte jedoch genau aufgezeichnet werden, dass das vollständige Kirchenpersonal der Kirchengemeinde während dem Sturm der Vertreibung erfasst wurde.”[Anm.] Im Archiv sind mehrere Listen vorhanden, Namenslisten, Waggonlisten, Listen nach Strassen. Diese Listen ergeben eine Zahl der Vertriebenen zwischen 4.600 bis ungefähr 12.000, ich halte aber eine Zahl 7-8.000 Personen maßgebend. Die Stadt hatte damals ca. 32.000 Einwohner.
 
Die Stadt Ödenburg zeigte im Mai das Bild einer vorher nie gesehenen Verwüstung. Die Stadt verschmerzte die Zerstörungen des Weltkrieges noch lange nicht, ein bedeutender Teil der Gebäude lag noch in Trümmern und infolge des Krieges flüchteten mehrere tausend Einwohner ins Ausland, die Anwesenheit der russischen Truppen erschwerte das Alltagsleben. Die ersten Auswirkungen der Vertreibung waren bereits im Mai zu spüren. Niemand hat Steuer bezahlt, auf den Äckern arbeitete niemand, auf dem Markt gab es keine Waren. Die Stadt stand dem Bankrott nahe. In der Sankt Michaelis Kirche hielt Kálmán Papp am 19. Mai die letzte deutschsprachige Messe.[Anm.]
 
„Die Durchführung der Vertreibung war, vor allem in der ersten Woche, ein himmelschreiendes Unrecht gegen die Menschenrechte und die Ehre der ungarischen Nation...” – schrieb Házi.[Anm.]
 
Am 3. August schickten der Bürgermeister und der Obergespan dem Innenminister einen neuen Bericht. Darin wurden die während der Aufarbeitung festgestellten Mängel zusammengefasst:
 
  • Die im Namensverzeichnis angegebenen Personen sind in vielen Fällen schon verstorben, wurden deportiert, oder wurden unter den sich mittlerweile veränderten Straßennamen zweimal aufgenommen, bzw. dieselben Personen wurden sowohl mit ihrem Mädchennamen, als auch mit ihrem neuen Namen aufgenommen. Trotz dieser Schwierigkeiten versuchten die mit der Aufgabe beauftragten Beamten, die Listen in alphabethischer Reihenfolge aufzuarbeiten.
  • Das Verzeichnis der Befreiten ist nicht vollständig, weil darin diejenigen nicht angegeben wurden, die wegen ihres Alters, oder wegen ihrer Krankheit, bzw. weil sie nicht transportiert werden konnten, befreit wurden.
  • Die Waggonlisten sind völlig unbrauchbar, weil sie nur die Namen derjenigen enthalten, die sich für eine Waggonkarte gemeldet haben, und nicht die Namen derjenigen, die tatsächlich in die Waggons kamen. In den Waggonlisten sind auch befreite Personen angegeben, bzw. solche, die wegen ihrem Alter oder ihrer Krankheit befreit wurden. Aufgrund dessen kann man bezüglich der Listen nicht feststellen, wer vertrieben wurde. Die freiwilligen Aussiedler sind ohne Sonderzeichen auf diesen Listen angegeben. So kann auch nicht festgestellt werden, wer rechtmäßig und wer ungerecht vertrieben wurde, bzw. wer freiwillig aussiedelte.
 
Auch die Schreibweise der Namen ist meistens fehlerhaft. Als Beispiel kann der Name Hirschler erwähnt werden, der auch als Hirner, Kirner oder Kirsch vorkommt. Oft wird weder das Geburtsjahr, und was noch problematischer ist, noch die Nummer des Namensverzeichnisses der zu vertreibenden Personen angegeben. So kann die Person nicht identifiziert werden. Bei vielen kann man nicht feststellen, ob sie befreit oder einwaggoniert wurden, da sie auf den Listen nicht angegeben sind.[Anm.]
 
Die Zeitung der Kommunistischen Partei stellte am 22. Mai 1946 mit Freude fest, dass die Vertreibung erfolgreich durchgeführt wurde. Der Verfasser des Artikels, Jeno" Horváth B. betonte, dass die „irritierenden Blutzellen verschwunden“ seien, und „neues Blut“ (er dachte wohl an die Neuansiedler) eingespritzt worden sei. Obwohl die Operation schmerzvoll gewesen sei, solle man jetzt in die Zukunft blicken. Der Journalist forderte auch von den hier gebliebenen Deutschen „ungarische Arbeit“. „Ödenburg, die Festung West-Ungarns ist jetzt ungarisch. Genug von der Vergangenheit.“ Das bedeutete auch: Genug vom deutschen Wort, vom deutschen Geist im Wirtschaftsbürger-Viertel.[Anm.]
 
Im Jahre 1946 mussten mehrere tausend Einwohner der Stadt, Alte, Frauen, Kinder und Männer, also ganze Familien in einigen Stunden zusammenpacken und die Stadt verlassen, in der ihre Ahnen seit Jahrhunderten gelebt hatten. In vielen Fällen wurden Familien voneinander getrennt und ein Treffen war für sie in der hinter dem Eisernen Vorhang abgetrennten Stadt lange Zeit praktisch unmöglich. Die hier Verbliebenen konnten sich auch noch in den 1960er Jahren mit ihren vertriebenen Verwandten nur für wenige Momente treffen, wenn sie zu der Eisenbahnschranke in der Batsányi Straße gingen und den Fahrgästen der mit geschlossenen Fenstern langsam verkehrenden Züge zuwinkten. Die Fahrgäste durften nämlich die Fenster der in Ungarn verkehrenden österreichischen Züge nicht öffnen, das wurde nicht nur von der ungarischen Grenzwache, sondern auch von der österreichischen Polizei kontrolliert. Bald wurde jedoch ein neues „Treffen” möglich, da die Verwandten sich auf dem Rückweg des Zuges aus Deutschkreutz wieder erblicken konnten. Die Jahrzehnte später ihre Heimat besuchenden Deutschen suchten ihre weggenommenen Häuser tief betroffen auf, nur um das Haus einmal sehen zu können, weil sie nicht immer den Mut hatten, an der Tür zu klingeln. Viele, besonders die Älteren, fanden in dem fremden Deutschland keine Heimat mehr.[Anm.]