Manchmal denke ich an meine Kinderzeit zurück, dann erscheinen mir aus der Vergangenheit viele alte Erinnerungen. Als unsere Ahnen hier, in diesem Tal angesiedelt wurden, gab es noch kein Radio, welches über die neuesten Tagesnachrichten berichtet hätte.
Bücher und Tageszeitung gab es, doch von dem Bergmannsgehalt langte es nicht, solche zu kaufen. Und wenn doch jemand eine Zeitung kaufte, konnte er nichts anfangen damit. Denn von den Einwohnern der Siedlung konnte kaum jemand lesen. Darum wurden Nachrichten und Neuigkeiten nur mündlich weitergegeben.
Als man mit gebrannten Ziegeln zu bauen anfing, wurde in der Alt-Brennberger Siedlung von mehr Wohnungen eine Häuserreihe aufgebaut, der Landstraße entlang, welche noch heute so steht. Zu jener Zeit wohnten dort  sehr kinderreiche Familien.

Bei dieser Häuserreihe gab es auf beiden Seiten eine kleine Wiese, auf welchem die Bergleute einen selbstangefertigten Tisch und zwei Bänke aufstellten. Wo sie in den Abendstunden gerastet und geplaudert hatten, jeden Abend auf der anderen Hausseite. Hier wurde alles erzählt, das Neueste von der, Siedlung und der großen Welt. Nach vielen Jahren gab es soviel Änderung in dieser kleinen Siedlung, dass die Generation meiner Eltern bereits lesen und schreiben konnte. Doch der alte Brauch am Abend zusammenzutreffen und zu plaudern wurde weiterhin erhalten, weil es den Menschen Spaß machte.

In dieser Alt-Brennberger Siedlung in einer kleinen bescheidenen Wohnung wurde ich geboren, und dort lebte ich mit meinen Eltern bis zu meinem 8. Lebensjahr. Durch die Erzählung meiner Eltern und Nachbarn blieb mir viel Erinnerung von dieser traurigen Vergangenheit.

Von Frühjahr bis Herbst saßen diese alten Brennberger Menschen beisammen und plauderten. Bei einer Gelegenheit stand ich neben meinen Eltern und horchte ihren Erzählungen zu. Mein Vater sprach mit seinen einstigen Soldatenkameraden über den 1. Weltkrieg und über ihr trauriges Soldatenleben. Diesem folgend hatte ein anderer Bergmann das Wort übernommen.
Dieser erzählte folgendes, von einem Buch, das er gelesen hatte: von einem Entdecker, von dem süd-amerikanischen Amazonasfluß, entlang dem Urwald. Er beschrieb die Kontaktaufnahme der dort lebenden wilden Stämme.

Er studierte die Ureinwohner und ihre Bräuche, dabei erkannte er dass dieses Urvolk Kopfjäger und Menschenfresser sind. Was für mich unglaublich klang, und eine große Furcht hervorgerufen hatte.

Im Laufe der Jahre wurde auch ich älter und größer. Ich erlebte die Entsetzlichkeit des II. Weltkrieges, mit der Flucht der Menschen. Dann die furchtbare Herrschaft der AVO-Verfolgung, die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes im Jahre 1956, danach die Volkswanderung der Ungarn nach Westen. Danach 1985-89 die Flucht der ost-deutschen Bürger, ihr Weg von Ungarn nach Österreich und so in die Bundesrepublik Deutschland.

Da erwachte in mir von neuem meine Kinderzeit, ich erlebte im Gedanken noch einmal die Erzählung über die Menschenjäger von diesem alten Bergmann. Da wurde mir klar, nicht nur in weiten unbekannten Regionen gab es Menschenjäger, sondern hierzulande, bei uns in Ungarn gab es sie auch.

1948 begann in Ungarn im breiten Kreise die Treibjagd der AVO (Ungarische Geheimpolizei) auf Menschen. Verurteilung von Menschen wegen politische Ansichten und Glaubensfragen, dies hat sehr viele Menschen betroffen. Sie machten keinen Unterschied zwischen Alt und Jung, jeder "verdächtigte", ob Mann oder Frau, wurde gleich behandelt. Das war die grausamste Zeit in Ungarn.

Die Kerker waren gefüllt, von Tag zu Tag vermehrte sich die Zahl von den zum Tode Verurteilten. Die Menschen fingen an zu fliehen, die AVO mit ihrer Treibjagd hatte sie schnell gefangen. Der ausgebaute Eiserne Vorhang verhinderte viele  Fluchtgedanken schon im Ansatz.

Als ich älter wurde, habe ich diese traurigen Geschehnisse erst richtig verstanden. Und noch mehr traf mich immer wieder ein neues politisches Ereignis, welches die Menschenrechte mit Füssen trat. Mit meinen Eltern hörten wir die Nachrichten von der Heimkehr der Kriegsgefangenen und von der Arbeit des Roten Kreuzes, das hilft, die im Krieg auseinander gerissenen Familien wieder zusammenzubringen.

Die Menschen hofften, dass nun endlich der Frieden komme. Statt dessen kam ein neuer Schlag, die Deportierung der Familien deutscher Nationalität in Ungarn. Im Lande wurde es allgemein bekannt, dass der Eiserne Vorhang die Flucht über die Grenze unmöglich machte. Wurde jemand während der Flucht gefaßt, wurde er vor das Gericht gestellt, und bekam eine  harte Strafe. Trotzdem hatten viele besonders die politisch Verfolgten das Risiko auf sich genommen und sind geflüchtet. Denn sie wurden auf jeden Fall interniert und in einen Sammellager gesteckt.

Der Entschluß zum Fliehen war schwer, doch der Weg für den sie sich entschieden hatten war noch schwieriger. Von der östlichen Landesseite und vom Landesinneren der Weg nach Westen war eine Qual.

1955 wurde die technische Sperre zum ersten Male abmontiert, und das Minenfeld geräumt. Doch 1958 wurde die technische Sperre wieder ausgebaut ohne Minenfeld. Um weitere Fluchten zu verhindern, wurden Sondergenehmigungen eingeführt und nur, wr eine solche Genehmigung hatte, konnte in das Sperrgebiet einreisen. Hatte jemand nicht diese Genehmigung, wurde er gleich zur Rückreise gezwungen. Gelang es doch einem Flüchtling in Grenznähe bis zum Eisernen Vorhang zu kommen, was sehr selten geschah und ohne örtliche Hilfe unmöglich war, machte jeder Flüchtling einen Seufzer, doch jetzt begann erst die Mutprobe für ihn.

Der Flüchtling ahnte nicht, was für Überraschungen auf ihn noch bei der technischen Sperre
warteten. Zuerst kam ein mit Leichtstrom funktionierendes Signalsystem, dann ein mit Stacheldraht geflochtener Zaun, danach folgte der Spurstreifen und abschließend ein Maschendrahtzaun, man nannte diesen "Wildfänger". Nach diesem am Waldesrand und im inneren Teil zwischen den Bäumen ausgespannten Stacheldraht, welcher als Stolperdraht diente. und das Gehen und Laufen erschweren sollte, folgte der schwerste Teil seiner Flucht. Ein paar hundert Meter weiter kam die zweite technische Sperre und das Minenfeld. Zwischen den beiden Sperren machten die Soldaten den Streifendienst.

Glück gehabt und gut angekommen bei der ersten technischen Sperre bekam der Flüchtling neuen Mut und Kraft, schwungvoll machte er sich daran die Sperre zu überwinden. Nun kamen die letzten 400-800 Meter, für viele war es auch ihr letzter Weg. 1978 wurde zum dritten Mal eine technische Sperre ausgebaut ganz nah an der Siedlungsgrenze neben den Wohnhäusern.

  1. Von der Muckwarte zur Bogenriegel-Siedlung, von dort entlang nach Agendorf.
  2. Von der Muckwarte bis Alt-Hermes, von dort zum Weissen Straße-Teich und Agendorf.

Diese zwei technischen Sperren, das mit Strom funktionierende Signalsystem, doch ohne Minenfeld hatten Brennberg rundherum abgesperrt. Außerdem war die Grenze gut bewacht und trotzdem begann 1985 eine neue Flüchtlingswelle von ostdeutschen Bürgern, die in Ungarn Urlaub machten.

Genauso begann wieder eine gut organisierte Menschenjagd, in welcher die örtlichen freiwilligen zivilen Grenzjäger-Abteilung en teilnahmen, was für die Siedlung und ihre Einwohner eine Schande war. Geflüchtet wurde auch am Tag, doch gewöhnlich setzte es aber erst am Abend ein. Neben der technischen Sperre wohnende Familien hatten es miterlebt als Menschen gejagt wurden, öfters hörte man ihre Hilferufe, Kinderschreie, die Abschreckungsschüsse der Grenzjäger. So eine Verfolgung dauerte öfters 2-3 Stunden, bis es wieder still wurde. Manchmal begann es schon in der Abenddämmerung und hielt an bis zur Morgendämmerung. Von vielen Brennberger Familien wurde aus Mitleid geholfen, doch viele machten ein Geschäft daraus.

Die Flucht begann öfters indem der Flüchtling den Stacheldraht anfasste um hinüberzuklettern.  In diesen Moment begann das Signalsystem Signal zu geben, durch dieses wussten die Grenzjäger, wo jemand flüchten wollte. Nun musste der Flüchtling schnell handeln, damit es ihm gelang über die Sperre zu kommen, bevor die Grenzjäger kamen. Kurze Zeit darauf hörte man schon Warnschüsse, danach öfters Menschenschreie. Manchmal gelang die Flucht, manchmal nicht. Dadurch wurden Familien zerrissen. Gelang es jemandem hinüberzukommen, war er in Österreich, wo er gleich Hilfe bekam. Gelang es nicht, wurde er gefasst und kam in ein Sammellager.

Nach dem Regimewechsel 1989 wurde begonnen, den Eisernen Vorhang abzubauen. Danach begannen erst die richtig grossen Flüchtlingsströme aufzutauchen, ein paar Monate später wurde von der ungarischen Regierung für die ostdeutschen Bürgerfamilien ein Dekret erlassen, dass Ihnen den freien  Grenzübergang nach Österreich ermöglichte, erst danach  kamen die Flüchtlingsströme zum erliegen.

Seitdem können in Brennberger Wald wieder frei die Touristen wandern, im Walde ist es still und ruhig. Das Ganze ist nun mehr eine traurige Erinnerung.