Anna W. geborene Wellesz
 

 

01Meine Großmutter wurde am 8. Oktober 1885 in Ödenburg/Sopron, Wieden 5/Gazda utca 5, in der Nähe der Kirche St. Michael, geboren und am 15. Oktober dort getauft. Anna Freiberger war ihre Taufpatin und Kaplan Gänsthaler vollzog die Taufe.

Wie es oft in Familien vorkommt, habe ich fast keine Informationen über die Kindheit und das Leben meiner Großeltern. Mir wurden zwar als Kind einige wenige "G'schichtln" erzählt. Nun sind sie schon lange tot, es ist so viel Zeit vergangen, so viel hat sich verändert, und ich kann mir nicht vorstellen, wie die Familie wirklich gelebt hat.

Meine Großmutter hatte zwei Geschwister, Maria, die ältere Schwester, geboren 1882, und Michael, den jüngeren Bruder, geboren 1892. Ihre Eltern, Wellesz Mihaly und Maria Haring, hatten einen kleinen Weingarten, waren jedoch so arm, daß sie als Kind barfuß gehen mußte, weil das Geld für Schuhe fehlte.

02Sie besuchte eine Volksschule und anschließend eine "Sonntagsschule". Es gab eine allgemeine Pflicht zum Besuch der 8-jährigen Volksschule. Diese war in manchen Gebieten für Bauern und Kleingewerbler auf 6 Jahre reduziert worden, um den Kindern die Mitarbeit in den Betrieben zu ermöglichen. Es wäre möglich, daß sie nur 6 Jahre in die Schule gegangen ist. Jugendliche sollten jedoch nach der Pflichtschule dazu angehalten werden, am Sonntag die Messe zu besuchen und das Evangelium zu hören. Am Nachmittag sollten sie unter Aufsicht des Lehrers oder des Pfarrers lesen, rechnen und schreiben üben. Es gab auch Sonntagsschulen von Gewerben, in denen praktische und technische Fächer unterrichtet wurden. Ich wüßte allerdings nicht, was meine Großmutter dort gelernt haben sollte.

Ihren Vater sprach sie mit "Sie" an: "... na, des hat's ned geb'n, Du zum Vatern sag'n ...“. Wenn die Eltern im Weingarten arbeiteten, mußte sie, auf einem Schemel stehend, achtgeben, daß das Essen auf dem Herd nicht anbrannte, und dabei auf den jüngeren Bruder aufpassen.

Da sie später wohl selbst Geld verdienen mußte, folgte sie ihrer Schwester Maria nach Wien. Maria soll beim Wiener Kammersänger Richard Mayr als Köchin beschäftigt gewesen sein und ihre Schwester Anna dort als Stubenmädchen oder Aushilfe untergebracht haben. Das könnte in den Jahren 1903 bis 1905 gewesen sein. Meine Großmutter lernte in der Folge ihren Leopold kennen. Eine (erste?) Karte schickt er am 28. Dec 1904 vom Budapester Margarethenbad an Wolgeborn Fraulein Anna Welles, II am Tabor No 14 thür 16: "Herzliches Gruss vom Poldi – Auf wieder sechen". Meine Großmutter schreibt am 14. 2. 05 an "Wohlgeboren Herrn Leopold W Schützvormeister k.u.k. Div.Artillerie Reg. No. 4 Batrie 3 Prater":

L. Leopold! Deinen Brief mit Freude erhalten, und schau das wir uns bald Wiedersehn, ich komme Sontag zu dir hin weiteres Mündlich kome bis 5 Uhr hinunter Mit Gruß Anna

Eine weitere Nachricht von ihm vom 27. V. 1905:

Muzikam Sontag Nachmitag komme um 4 h Herzliches Grus vom dein Poldi

03Mit einer Postkarte vom 14. IV. 1906 an "Wolgb Frl Anna Welles in IX, Garnisonsgasse 18, Stige XI wünst dein Poldi Fröhliche Ostern". Er war der besten Polka-Tänzer, den es gab", hat sie erzählt, und "die Sohl'n von meine Schuach war'n in aner Nacht durch'tanzt."[1]

Sie heirateten am 18. November 1906 in der Pfarrkirche zum Hl. Bartholomäus in Hernals. Ziemlich spät, denke ich, denn bereits am 16. Dezember 1906 kam der erste Sohn Leopold/Polderl zur Welt.[2] Einmal erzählte sie, daß sie die Eingangstür zur Wohnung vor der Hebamme versperrte, weil sie glaubte, daß ihr die mit der Schere den Bauch aufschneiden würde um das Kind herauszuholen. Noch ein G'schichterl: Meine Großmutter soll mit dem Polderl einmal zu Besuch im Hause Richard Mayrs[3] gewesen. "Stell'n S' ma'n auf'n Tisch auffe, sonst sich i eam ja ned", soll er gesagt haben; er war ja ziemlich beleibt und hatte einen dicken Bauch, über den er wahrscheinlich nicht richtig drübersah, und der Polderl war damals noch sehr klein. Am 26. Juli 1908 wurde der zweite Sohn Rudolf/Peperl[4] geboren.

90 % der Wohnungen in den Arbeiterbezirken waren Kleinwohnungen. Die Ausstattung dieser Wohnungen war zumeist mangelhaft: kein Wasser, kein Gas, Küchen mit Licht aus dem Hof, Lichtschacht oder über den Gang, eine Bassena und zwei bis vier WC pro Stockwerk, die Mieten dagegen oft hoch[5]. Ich bin mir sicher, daß die im Hochparterre liegende Wohnung Nr. 8[6] in der Beckmanngasse 38 im heutigen 15. Bezirk (damals XIII/2) eine derartige Ausstattung hatte:

04

Im Jahre 1917 übersiedelte meine Großmutter in die Fenzlgasse 11 im 15. Wiener Gemeinde-Bezirk (damals 14. Bezirk) in den 2. Stock.

Diese Wohnung bestand aus einer Gang-Küche und einem dahinter liegenden Zimmer mit zwei Fenstern auf die Johnstraße, Wasser und WC auf dem Gang. Die Größe schätze ich auf 40 m2. Meine Großeltern haben fast 50 Jahre bis zu ihrem Tod in dieser Wohnung gewohnt; ich wurde 1947 geboren, ich kann mich noch daran erinnern. Sie war einfach, heutzutage würde man sagen "ärmlich": Man betrat die Wohnung, das heißt die Küche, durch eine große doppelflügelige braune Holztüre mit Glas- und Gittereinsätzen, Türklinken, Beschläge und Klingel aus Messing. In der Küche befand sich auf der rechten Seite eine Art Holz-Verbau, bestehend aus einer Abwasch mit je einem links und rechts angebauten Sitz, wo meine Großeltern saßen und auch ihre Mahlzeiten einnahmen. Die Abdeckung der Abwasch diente dabei als Tisch. Sie hatte eine große Lade mit zwei herausnehmbaren Metallbecken, sogenannte "Schaffeln", (aus Blech). Wahrscheinlich hatte es anfangs keine Gaszuleitung in die Wohnung bzw. ins Haus gegeben.[7] Denn anschließend an diesen Holzverbau befand sich ein gemauerter Herd, der zu meiner Zeit nur mehr als "Stellage" für ein Gas-Rechaud und ein Gas-Backrohr diente. Ich sehe noch den bunten, gewebeummantelten Zuleitungsschlauch für das Gas vor mir, der an einem einfachen Absperrhahn herunterhing. Wie eine Schlange - er hat mir als Kind sehr gefallen. Der Herd konnte so nicht mehr beheizt werden. Für Wärme sorgte ein danebenstehender kleiner Dauerbrandofen, der "Meller".

An der linken Seite der Küche war ein kleines Regal[8] eingebaut, danach eine weiße Kredenz, eine Kohlenkiste und eine Waschbank. Auf der Waschbank standen das Lavoir und eine Seifenablage, darunter, von einem kleinen Vorhang versteckt, ein Kübel (vielleicht auch ein Nachttopf), in dem Schmutzwasser gesammelt und zur Toilette auf dem Gang getragen worden ist.

Im Zimmer befanden sich zwei Wäscheschränke und ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch mit Armsessel, zwischen den beiden Fenstern eine Kommode mit großem Spiegel, in der Mitte des Raumes ein aufklappbarer Tisch und vier Sesseln, der aber praktisch nie benutzt wurde, vor allem niemals im Winter, denn da war es im Zimmer eiskalt. Es wurde am Abend höchstens die Zwischentüre geöffnet, damit es "a bißel überschlagen is, weil bei der Hitz' kann ma ja ned schlaf'n, außerdem werd'n die Äpfel hin"[9]. Weiters befanden sich im Zimmer ein Messingbett, in dem meine Großmutter schlief, und eine Bettbank für meinen Großvater.

Über dieser Bettbank hing ein phantasievolles Bild: auf einer blumenumkränzten Gondel saßen und standen Elfen mit wallenden Haaren und Kleidern. Es war so romantisch schön, ich konnte mich als Kind nicht daran satt sehen.

Ich habe die Wohnung aus meiner Erinnerung heraus beschrieben, also ungefähr ab dem Jahr 1951 oder 1952. Sie wird in den Jahren davor ebenso oder ähnlich ausgesehen haben. Ich glaube nicht, daß meine Großeltern im Laufe ihres Lebens jemals genug Geld zur Verfügung hatten, um sich neu einzurichten.

   ***

Wenig Wert wurde in der Familie auf das Erzählen gelegt. Nichts wurde erzählt über den 2. Weltkrieg und schon gar nicht über die ferne Vergangenheit, den ersten Krieg. So habe ich keine Kenntnis von ihren Erlebnissen, Gefühlen und Empfindungen in diesen Zeiten. Und auch die Karten lassen meist nur erahnen, wie schwierig sich das Leben gestaltete und wie sehr sie gelitten haben.

Leider sind die ersten Karten meiner Großmutter an meinen Großvater nach Przemyśl nicht erhalten. Ich vermute, daß ihm seine persönlichen Sachen bei der Verwundung bzw der Gefangennahme abhanden gekommen oder dass sie ihm, wie vielfach in der Literatur beschrieben, abgenommen worden sind. Es waren Regeln für den Inhalt der Karten an die Gefangenen vorgegeben. Die Karten, die meine Großmutter hat schreiben lassen, halten sich an diese Regeln: Familienangelegenheiten, Gesundheit, Kinder, Grüße und Küsse. Fast alle Karten von meiner Großmutter hat eine der Schwestern K. (Sophie und/oder Valerie?) für sie geschrieben, die ebenfalls im Haus in der Beckmanngasse gewohnt haben und mit deren Familie meine Großeltern befreundet waren. Ersichtlich ist dies aus der Handschrift der Karte vom 12. Jänner 1916, gerichtet an Leopold W. im Lager Nikolsk-Ussurijsk, die mit "Familie K." unterzeichnet ist. Nur zwei Karten, vom 15. August 1916 und vom 27. Oktober 1918 in Kurrentschrift, hat sie selbst verfaßt. Auch der kleine Poldi bekam von einer der beiden Schwestern Unterstützung in Form einer Art Nachhilfeunterricht im Lesen und Schreiben. Warum nicht auch der kleine Rudi/Peperl von den Schwestern ein wenig betreut worden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Er hätte es notwendiger gebraucht als Poldi, denn er war ein unruhiges, "schlimmes" Kind, immer zu Streichen aufgelegt (Karte vom 11. Februar und 2. Mai 1917[10], und ein schlechter Schüler. Wahrscheinlich war er erst einmal noch zu klein; später lag es vielleicht daran, daß meine Großmutter im Jahre 1917 die Wohnung wechselte und Hilfe und Unterricht wegen der räumlichen Trennung und der allgemein betrüblichen Zustände nicht möglich gewesen ist. Von ihm gibt es keine einzige Karte an den Vater; sie könnten aber auch verloren gegangen sein.

06Die letzte Karte meines Großvaters aus dem Feld ist vom 3. November 1914 an Polderl. Danach wartete meine Großmutter in dem Bewusstsein auf Nachricht, dass Przemyśl das zweite Mal eingeschlossen worden war und keine Nachrichten durchkamen. Durch Zeitungsmeldungen war die Bevölkerung unterrichtet: ".. am 10. 11. .. Przemyśl ist wieder eingeschlossen ..."[11]. Offensichtlich wußte sie auch um die kolportierte Möglichkeit, daß Post per Flugzeug in die Festung gebracht würde, was sich später als nicht richtig herausstellte[12], und schrieb trotzdem am 10. Jänner 1915 zuversichtlich.

Anscheinend hat sie danach eine Anfrage an das Auskunftsbureau des Roten Kreuzes Wien "Kriegsschule" gerichtet. Verständlich, wenn ich an die langen Toten- und Vermißtenlisten denke, die jeden Tag in der Kronen-Zeitung veröffentlicht worden sind; die Angst, seinen Namen dort zu finden, war sicher groß. Am 12. Februar 1915 bekommt sie vom Roten Kreuz eine Nachricht: "In den bisher eingelangten ämtlichen Ausweisen ist Angefragter nicht enthalten".

07Welch ein Glück, daß sie einen Tag vorher die erste Karte von meinem Großvater vom 13. Dezember 1914 aus Moskau erhalten hat:

Liebe Anna

theile dier mit das es mier gut gehe ich bin schohn fast gesund noch einige tage dan werde ich aus dem Spital entlasen hier werden mier gut behandelt bekomen genügend esen speziel brot bekomen mier sehr fil auch geschenke die Russen sind sehr gute (Ärzte?) und from sind alle

mahe dier keine sorge ich bin gut aufgehoben hier küs dich und die kinder dein Poldi

Ich denke, daß seine Bemerkungen die Behandlung betreffend nicht vollkommen aus der Luft gegriffen waren. Er hätte andere Worte wählen können oder er hätte gar nicht auf die Zustände eingehen müssen, wie er es später getan hat, was ja manchmal erahnen läßt, wie es wirklich gewesen ist. Anfangs wurden die verwundeten Gefangenen, wie in schon erwähnt, zumeist gut behandelt. Jetzt wußte sie wenigstens, daß er lebte und nach der Verwundung auf dem Weg der Besserung war. Auf der nächsten Karte vom 2. Jänner 1915 ist keine Absenderadresse angegeben. Es könnte sein, daß diese Karte über die Hilfs- und Auskunftsstelle des Roten Kreuzes in der Landskrongasse an meine Großmutter weitergeleitet worden ist. Erst auf der zweiten teilte mein Großvater die Adresse mit: "Tiumen Tubolsker Governement in Rusland Rotte IV". Am 16. März schreibt sie eine (die erste?[13]) Karte mit Ostergrüßen nach Tjumen. Diese Karte wird (mit einem Vermerk mit roter Tinte "Irkutskaja") nach Nikolsk-Ussurijsk weitergeleitet. Mein Großvater erhält sie dort Ende August.

Am 11. Mai 1915 bekommt sie vom Auskunftsbureau der Österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuz (Nachrichten über verwundete und kranke Militärs) die Nachricht "Vorläufig vermisst – Wenden Sie sich an die Auskunftsstelle für Kriegsgefangene, Wien I, Jasomirgottstraße Nr. 6". Ganz verstehe ich das zwar nicht. Denn wenn die Karte vom 2. Jänner aus Tjumen über die genannte Rote Kreuz-Stelle gesandt worden wäre, hätte das Auskunftsbureau das eigentlich wissen müssen. Als Erklärung mag gelten, daß es eine Unzahl von Meldungen gegeben hat.

08Ab Juni 1915 schickt meine Großmutter vorgedruckte Karten vom "Roten Kreuz" – Correspondance des prisonniers de guerre – versehen mit österreichischem Zensurstempel.

Erstaunt hat mich, daß die Sendung eines Telegramms möglich gewesen ist. Meine Großmutter schickt es am 31. Mai 1915, nachdem mein Großvater wiederholt eine Nachricht von ihr fordert, die er wegen der lange dauernden Postzustellung von der Heimat ins Lager nicht erhält. Er bestätigt den Erhalt des Telegramms schon am 4. Juni. Mit dieser Karte ersucht er auch um Überweisung von 10 Rubel.

Lieber Poldi!

 

Habe Deine Karte vom 30. VIII. erhalten. Teile Dir mit, daß ich Dir schon Geld geschickt habe am 26. VIII. Hoffentlich hast Du es schon erhalten. Wir sind gesund, was wir auch von Dir hoffen. Habe mich sehr gefreut Deinen Namen auf dieser Karte von den gefangenen Straßenbahnern in der Zeitung* zu finden. Herzliche Grüße und Küsse von mir und den Kindern Anna

* Der Zeitungsausschnitt aus der "Kronen-Zeitung" hat folgenden Wortlaut:

"Kriegsgefangene Straßenbahner in Nikolsk-Ussuriski.

Auf zwei zusammengehefteten Karten von Kriegsgefangenen aus Nikolsk-Ussuriski kam uns folgende Kunde zu:

Geehrte Redaktion! Unterfertigte Straßenbahnbedienstete ersuchen um Veröffentlichung ihrer Namen in ihrem geschätzten Blatte und erlauben sich hiemit an die edlen Wiener und Wienerinnen die herzlichsten Grüße aus dem fernen Ostsibirien zu senden. .... Leopold W., ... und Johann P. vom Bahnhof Rudolfsheim ..."

Die letzte Karte meiner Großmutter vom 18. Juli 1917, ist adressiert nach Toschkovka, weil sie die neue Adresse vom Lager Almasnaja noch immer nicht weiß.

Mein Großvater erhält sie am 12. Oktober 1917. Ich glaube nicht, daß sie ab Juli 1917 keine einzige Karte mehr geschrieben hat. Mein Großvater war 172 Wochen in Gefangenschaft. Nun könnte man annehmen, daß von ihr an die 150 Karten geschrieben worden sind. Da es aber nur 52 gibt, könnten geschätzte zwei Drittel der Karten verloren gegangen oder vernichtet worden sein.

***

Ich konnte nicht herausfinden, was mein Großvater als Angestellter der Wiener Verkehrsbetriebe vor dem Krieg verdiente. Nachdem er nun in Gefangenschaft war und meine Großmutter wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit, die sich im Laufe der Kriegsjahre noch verschlechterte, die kurzzeitig angenommene Arbeit bei den Wiener Verkehrsbetrieben gleich wieder aufgeben mußte, war ihre finanzielle Lage sicherlich alles andere als rosig. Sie erwähnt auf der Karte vom 25. 12. 1915, daß sie einen halben Lohn und 6 Tage "Remaration" (Remuneration) als Weihnachtsgeschenk erhalten habe.

Auf der Karte vom 6. Februar 1916 schreibt sie:

09„Lieber Poldi!

Habe Deine Karte vom 1./1. erhalten, und Dir am 28./1. fünfzehn Rubel durch die Bank geschickt. Es sind zehn Kronen von den Herren vom Kabelbureau dabei. Herr Hochleitner hat sich erkundigt wie es Dir geht. Ich bekomme monatlich vom Staat und von der Straßenbahn cirka hundertvierzig Kronen. Im Dezember habe ich von der Straßenbahn den ganzen Gehalt bekommen als Christkindl. Wir sind gesund und hoffen dasselbe von Dir. Grüße von allen Bekannten und Verwandten. Herzliche Grüße und Küsse Deine Anna und Kinder

Hast Du schon die Photographie?“

 

Angehörigen von Mobilisierten stand ein Unterhaltsbeitrag zu, und zwar für die gesamte Dauer "während welcher der Einberufene infolge seiner Einrückung verhindert ist, seinem bürgerlichen Berufe nachzugehen, also von dem Tage seiner Einrückung bis zu seiner Rückkehr... Wird allerdings der Einberufene in einem Gefecht getötet oder nach einem Gefecht vermißt ... gebührt den Angehörigen der Unterhaltsbeitrag noch durch 6 Monate ... vom Tage der Vermissung an gerechnet."[14] Die Nachricht führt nicht aus, ob der Beitrag weiter ausbezahlt wurde, wenn sich nach einiger Zeit herausstellte, daß der Mobilisierte in Kriegsgefangenschaft geraten war.

Die "k.k. n.-ö. Statthalterei führte für alle Gemeinden Niederösterreichs, somit auch für Wien, eine Mehl- und Brotkarte ein"[15]. Die Ernährungslage verschlechterte sich dramatisch. So erhielt man zum Beispiel mit einem "Ausweis über den Verbrauch von Brot und Mehl für die Zeit vom 5. 3. bis einschließlich 18. 3. 1916 "für 14 Tage 3920 g Brot oder 2520 g Brot und 1000 g Mehl. Die Menschen mußten sich bald viele Stunden lang vor den Geschäften anstellen, oft gingen sie ohne Brot nach Hause, es gab immer wieder nicht genug für alle. Ich erinnere mich: "I hab mi scho in der Nacht angstellt und in da Frua hat si der Poldi statt mir angstellt" und: "I hab a Scherzl Brot und a Heferl Kaffee vom Dienst hamtragn für die Kinder". Das könnte meine Großmutter in den wenigen Monaten, in denen sie in der Remise Rudolfsheim arbeitete, als Jause (Frühstück?) bekommen haben.

Ein Leser sandte wegen des Anstellens eine Beschwerde an eine Zeitung: "... daß die Zustände beim Kohlenverkauf in der ehemaligen Fünfhauser Gasanstalt unhaltbar seien. Bis zum Heumarkt in Rudolfsheim stehen Hunderte von Menschen mit ihren Handwägelchen 36 – 48 Stunden lang und warten geduldig ..."[16]

Emmy Freundlich spricht von einer Zunahme der Frauenarbeit bei "den Schaffnerinnen, Kutscherinnen, Briefträgerinnen und Laternenanzünderinnen, sie werden immer alltäglichere Erscheinungen"[17]. Das Kriegsministerium veröffentlichte bereits im Dezember 1915 einen Aufruf an Frauen, mehr Arbeit in Fabriken zu suchen, damit mehr Männer in die Armee eintreten könnten. [18] Und so wurden sie im Laufe der Zeit in allen Berufen eingesetzt. Tausende Frauen mußten schneller als die Männer die vormals diesen vorbehaltenen Arbeiten erlernen. Die bereits seit 1885 verbotene Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche wurde wieder erlaubt. Außerdem wurde die Anzahl der Arbeitsstunden von täglich 9 bis 11 Stunden auf bis zu 13 Stunden hinaufgesetzt, vor allem in kriegswichtigen Betrieben konnten es auch bis zu 1016 Stunden sein. Sehr viele Frauen wurden in der Rüstungsindustrie eingesetzt, meist bei der Fertigung von Granaten. Mit ein Grund für den hohen Anteil an arbeitenden Frauen war aber nicht nur die Tatsache, daß die Männer an allen Ecken und Enden fehlten, sondern auch, daß wegen der Teuerung das Leben immer schwieriger wurde. Freundlich nennt Österreich als das teuerste kriegsführende Land mit einer Teuerungsrate von 121 % im Jahre 1915. Im Jahre 1916 war diese schon auf 200 % angestiegen. [19] So wird wohl auch meine Großmutter mit der ihr staatlicherseits zugestandenen Unterstützung nicht ausgekommen sein, und sie versuchte, trotz ihres angeschlagenen Gesundheitszustandes in der Remise zu arbeiten.

Dabei verdienten Frauen im Schnitt nur 50 bis 60 % der Männerlöhne. Die Gemeinde Wien bezahlte zum Beispiel einem Schaffner einen Tageslohn von 3,90 Kronen, der Schaffnerin nur 3,60 Kronen. Der Schaffner erhielt nach zweijähriger Dienstleistung 4,50 Kronen, der Lohn der Frau blieb gleich.[20]

Die Auswirkungen der schweren und schlechten Arbeitsbedingungen auf die Gesundheit der Frauen waren gravierend. Sie waren blutarm, nervös, krank, total übermüdet durch die langen Nachtschichten und die anschließende Hausarbeit und Kinderbetreuung, und nicht selten infolge der Schwächezustände nicht mehr erwerbsfähig. Einige deutsche Ärzte äußerten sich über die Auswirkungen der Erwerbsarbeit: Es sind dies schwerste gesundheitliche Störungen, Kopfschmerzen, Schwindel und Ohnmachtsanfälle, dadurch verursachte Unfälle, Nervenzerrüttung, Lungenkatharre, Herzbeschwerden, Angstzustände, Gewichtsabnahme und vieles mehr.[21] Meine Großmutter schreibt am 16. April 1916, dass sie schon einen Monat in der Werkstatt arbeitet. Nach fünf Monaten muss sie wieder zu Hause bleiben, da ihr die Nachtarbeit zu schwer ist.

Aber nicht nur durch die schwere Arbeit, auch durch die generell schlechte Ernährung wurden die Menschen anfällig für schwere Erkrankungen. Die seit jeher in der armen Bevölkerung grassierende Tuberkulose nahm sprunghaft zu. Ebenso erkrankten sie an Hungerödem, und viele Kinder waren durch Vitaminmangel rachitisch. Nicht zu vergessen die verheerende Grippeepidemie, die 1918 nochmals zehntausende Menschenleben auslöschte. Meine Großmutter litt ein Leben lang an Lungenschwäche, chronischer Bronchitis und Asthma, was möglicherweise auf diese Zeit der Entbehrungen zurückzuführen war.

Rudi und Polderl scheinen durch den Nahrungsmangel nicht entscheidend in ihrer Entwicklung gestört gewesen zu sein.[22] Sie wurden nach Beendigung des Krieges zur Erholung und zum Aufpäppeln einige Zeit nach Holland verschickt. Mein Vater hatte nicht die besten Erinnerungen an diesen Aufenthalt. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, daß die durch Krieg, Hunger und die jahrelange Abwesenheit des Vaters traumatisierten Kinder letztendlich noch monatelang von den Eltern getrennt worden sind.

Durch die besonders nach dem Krieg einsetzende Inflation stiegen die Lebenshaltungskosten dramatisch an. Der ungefähre Lebensmittelbedarf einer durchschnittlichen Arbeiterfamilie betrug nach Mölz11er im Juli 1919 2540,- Kronen, und im Juli 1920 bereits 4689,- Kronen[23]. Zum Vergleich: Meine Großmutter hatte im Frühjahr 1915 nur! 10 Kronen nach Rußland überwiesen, und im Februar 1916 vom Staat und von den Wiener Verkehrsbetrieben nur 140 Kronen pro Monat bekommen. Ein Glück war auf jeden Fall, daß mein Großvater nach seiner Rückkehr aus Italien seine Stelle bei den Wiener Verkehrsbetrieben wieder einnehmen konnte und nicht auch noch von der enormen Arbeitslosigkeit in den Jahren nach Kriegsende betroffen war.

Einige Hühner wurden 1945 vor dem Garten von durchziehenden Russen erschossen. Mein Großvater konnte noch ein paar Wörter russisch sprechen, möglicherweise ist ihnen deshalb persönlich nichts geschehen. Unvorstellbar, aber wahr: Die Hühner wurden in Käfigen in der Wohnung überwintert. Einen Winter lang hatten meine Eltern auch ein Huhn in der Küche untergebracht, die "Weiße" hieß sie. Sie legte die größten Eier von allen. Eines Tages flog sie wie verrückt in der Küche umher, mein Vater sprang von einem Sessel auf den anderen, um sie wieder einzufangen. Ich war noch ganz klein und habe mich sehr gefürchtet vor dem gackernden Ungeheuer. Wir hatten im Garten auch Hasen, zu denen ich angeblich "Hundi" sagte, sie landeten auch auf dem Teller.

Heute verwundert es mich nicht mehr, daß meine Großeltern und auch meine Eltern nach den Kriegen alles gegessen haben. Nichts wurde weggeworfen. Verschimmelte Lebensmittel wurden zugeschnitten, abgeschöpft, aufgekocht. Kochgeschirr wurde ausgekratzt, saure Milch getrunken. Ich war als Kind eine "schlechte Esserin" – "wie der Gandhi schaust aus", sagte mein Großvater, und – den Standardsatz -: "... was glaubst, was mir im Krieg alles 'gessen ham". Ich habe damals verständnislos wohl weiter wenig gegessen. Später habe ich es zwar verstanden; starke Gefühle kamen aber erst jetzt auf, als ich mich so intensiv mit dem Geschehen befaßte.

Den Garten verkaufte meine Großmutter im Jahr 1962, nachdem mein Großvater im Jahr davor plötzlich verstorben war. Im Oktober 1968 starb sie, ebenfalls unerwartet, vor ihrem 83. Geburtstag.

***

 


[1] Das war nicht nur auf das Tanzen zurückzuführen, sondern auch auf die mindere Qualität der Schuhe. Teure Lederschuhe konnte sie sich sicher nicht leisten.

[2] Das scheint damals aber nicht unüblich gewesen zu sein. Meine Großeltern mütterlicherseits heirateten erst, nachdem das erste Kind geboren worden war.

[3] Richard Mayr, 1877 – 1935, war 1902 an das k.k. Wiener Hof-Operntheater, heute Staatsoper, verpflichtet worden. Berühmt wurde er mit Rollen im "Rosenkavalier" und in den "Meistersingern" nicht nur in Österreich, sondern auch bei den Bayreuther Festspielen, an der Covent Garden Opera, London, und Metropolitan Opera, New York. Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Mayr

[4] Warum der kleine Rudolf "Peperl" genannt worden ist, weiß ich nicht. Peperl ist doch die Kurzform von Josef. Vielleicht hätte man ihn mit dem Bruder Leopolds, der auch Rudolf hieß, verwechselt? Vielleicht war dieser auch sein Taufpate? Andererseits hieß der kleine Leopold ja auch "Poldi" wie sein Vater; wie gesagt – keine Ahnung!

[5] Mölzer, Wien vor und nach dem 1. WK, S 44 ff

[6] Darunter, im Tiefparterre, befand/befindet sich wahrscheinlich (heute noch) eine Werkstatt oder ein Geschäft

[7] Strom in ausreichender Menge konnte erst ab 1900 von einem E-Werk der Gemeinde Wien erzeugt werden. Da wurde übrigens auch die schlechte Straßenbeleuchtung durch elektrische Bogenlampen ersetzt. Rudolfsheim und Fünfhaus wurden ab 1912 mit Gas versorgt, nachdem die Gemeinde ein eigenes Gaswerk in Simmering erbaut hatte. Weyrich, S 184

[8] Dieses Regal hatte etwas Besonderes an sich: Im Winter, ich denke 1950, oder auch 1951, genau weiß ich es nicht, ich war noch sehr klein, der Eindruck trotzdem ein Bleibender, befanden sich darin Käfige mit Hühnern, die dort überwinterten und sogar Eier legten. Welch ein Vorteil in diesen Zeiten!

[9] Äpfel und Birnen, die im Herbst im Garten geerntet worden waren, wurden auf die Kästen gelegt, um möglichst bis ins Frühjahr hinein zu "halten". Dazu mußte es möglichst kühl im Zimmer sein. Egal, wie es einem selbst dabei erging – dem Obst ging es gut!

[10] "ein Spitzbub" schreibt meine Großmutter, später war ihr der Ausdruck zu milde

[11] Wiener Bezirksnachrichten Nr. 23 und 24 vom 24. Dezember 1914, S 6, rechte Spalte

[12] siehe "Die Post vom und zum Kriegsschauplatz" weiter unten

[13] Ich hätte sofort oder zumindest am nächsten Tag zurückgeschrieben und nicht 10 Tage zugewartet. Oder ist die erste von ihr gesandte Karte bereits im Nirgendwo gelandet?

[14] Kronen-Zeitung vom 22. Dezember 1914

[15] Wiener Bezirksnachrichten Nr. 8 vom 1. 5. 1915, S 2

[16] Wiener Bezirksnachrichten Nr. 15 vom 4. August 1917, S 4

[17] Freundlich, Emmy, Die industrielle Arbeit der Frau im Kriege, S 5 f

[18] Freundlich, S 22

[19] Freundlich, S 20

[20] Freundlich, S 37

[21] Freundlich, S 54 f

[22] Mein Vater starb 2011 im 105., mein Onkel 2008 im 100. Lebensjahr; sie waren mehr oder weniger gesund.

[23] Mölzer, Wien vor und nach dem 1. WK, S 39